Sturz in den Tod (German Edition)
seiner
Mutter interessierte, dann würde er doch jemanden beauftragen, der
professioneller war als Nina.
Nina musste ihn nachher all das fragen. Nach der Seebestattung. Oder
nach der Testamentseröffnung. Der Kapitän der » MS Luzia«
begrüßte die Bergmanns. Die einzigen Trauergäste.
Das bleibt also von einem langen Leben, dachte Nina: eine Urne, in
der Asche ist. Eine Bestattung, zu der nur zwei Menschen kommen.
Plötzlich drängte sich ihr das Bild auf, wie Alexander Bergmann mit
seiner Mutter streitet. Wie die alte Dame vor ihm auf den Balkon flieht. Und
wie sie springt. Oder hatte er sie gestoßen? Über die Brüstung? Das alles ergab
keinen Sinn.
Die » MS Luzia« legte ab. Nina wäre gern
mit an Bord. Sie hatte noch nie eine Seebestattung miterlebt. Ihren Vater hatte
man nie gefunden. Sicherlich hätte er sich eine Seebestattung gewünscht. Auf
dem Grund des Meeres, auf das er so häufig hinausgefahren war. Dort, wo kein
Fischkutter mit Schleppnetzen fischen durfte, dort, wo die großen Steine lagen
und das Fortspülen der Urne verhinderten.
Manchmal hatte Nina das Bild der gesichtslosen Leiche ihres Vaters,
die unter der Wasseroberfläche der Ostsee trudelt, vor Augen. Dieses Bild war
der Grund, weshalb sie in der Ostsee nicht weit hinausschwimmen konnte. Sowie
Nina nicht mehr auf den Meeresgrund sehen konnte, kehrte sie zum Ufer zurück.
Wenn sie früher mit Jan weit hinaus surfte, sprang sie niemals vom Brett ins
Wasser. Wenn sie das Segel nicht mehr aufgerichtet bekam, wartete sie mit
angezogenen Beinen auf dem Brett, bis sie wieder Kraft hatte. Wenn jemand
nachfragte, warum sie sich nicht mehr ins tiefe Wasser wagte, erklärte Nina es
damit, dass sie, seit sie den Film »Der weiße Hai« gesehen habe, nicht mehr
weit hinausschwimmen könne. Sie hätte immer ihre Beine aus der Perspektive des
Hais vor Augen. Der Film wäre schuld. Die meisten amüsierte diese Erklärung,
viele verstanden sie, denn Nina war nicht die Einzige, der es nach dem Film so
erging.
Neunzig Minuten würde die Ausfahrt der » MS Luzia«
dauern. Nina beschloss, solange die kleine Wohnung von Frau Winter zu putzen.
Die junge Frau aus Hamburg hatte die neunzehn Quadratmeter ehemaligen
Wirtschaftsraum als Geldanlage gekauft und bekam das Apartment regelmäßig übers
Internet vermietet. Heute war wieder mal Abreise, das Büdchen musste sauber
sein, falls bald die nächsten Mieter kamen.
»Moin!«, grüßte der Betreiber, der seinen Fischbrötchenstand
aufschloss.
Nina trat neben der Bude hervor und grüßte zurück. Dabei bemerkte
sie, dass der Gruß gar nicht ihr gegolten hatte, sondern einem Mann und einer Frau,
die sich auf der anderen Seite aufhielten und offenbar ebenfalls die Ausfahrt
der » MS Luzia« beobachteten. Beide
eilten in Richtung Stadt davon. Gab es noch mehr Leute, die wie Ninas Mutter
gern an der Seebestattung teilgenommen hätten?
Nina war sich sicher, den Mann schon mal gesehen zu haben, und ging
ihnen nach. Das Paar bog in die Gasse ein, die von der Vorderreihe in die
Kurgartenstraße führte.
Bis zur Testamentseröffnung verblieben ihr etwa drei Stunden, weil
die Bergmanns vorher noch einen Happen essen gehen wollten. Das wusste sie von
Jan.
Sie wartete in sicherem Abstand, bis das Paar am Ende der
menschenleeren Gasse war. Bevor sie abbogen, griff der Mann nach der Hand der
Frau an seiner Seite. Sie zog sie zurück und sah sich um. Sie gingen durch die
dichte und dunkle Allee in Richtung Maritim. Weshalb waren sie nicht in der
Vorderreihe geblieben? Dies war ein Umweg. Wieder nahm der Mann ihre Hand. Die
Frau zog sie weg, beschleunigte ihre Schritte und ging auf den Parkplatz zu,
der auf dem Weg zum alten Leuchtturm lag. Der Mann rief ihr etwas nach, das
Nina nicht verstand. Die Frau winkte ab und setzte sich in ihr Auto. Ein altes
Mercedes SL 280 Cabrio. Ein Auto, das nur einer hier in Travemünde
gefahren hatte. Frau Bergmann.
Die Frau, die es jetzt fuhr, warf dem Mann auf dem Gehweg einen
Handkuss durch die Windschutzscheibe zu, als sie den Parkplatz verließ. Sie
fuhr, als hätte sie es eilig, wegzukommen. Als die Frau an Nina vorbeifuhr, kam
es Nina vor, als begegneten sich ihre Blicke. Auf dem Nummernschild stand kein HL mehr für Lübeck, sondern ein B . Der Mann stand da und sah dem Auto noch nach, als
es nicht mehr zu sehen war. Nina folgte ihm, als er schließlich in Richtung
Maritim ging. Sie hatte dasselbe Ziel. Nicht nur, weil sie dort putzen musste.
***
Romys Plan ging
Weitere Kostenlose Bücher