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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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darunter: »Désir«, Sehnsucht. Ich hörte auf zu blättern, ein Blitz kam in mich, ein Gedankenblitz, ich begriff einmal mehr, dass mich ganz andere Sehnsüchte peitschten. Ich zahlte, eilte nach Hause und rief meinen Verleger an: »Ich gehe von Paris nach Berlin, immer zu Fuß und immer ohne Geld. Schicken Sie den Vertrag!«
    Und so geschah es, mitten im gemeinsten Sommer der letzten Jahre, in den Monaten Juni und Juli 2003. Während der 1863918 Schritte auf den elfhundert Kilometern war ich ununterbrochen beschäftigt. Mit Schnorren, mit Wimmern, mit Lügen, mit Eiterstillen, mit tausend Ängsten: keine barmherzige Seele zu treffen, vom Sturmregen verweht zu werden, am eigenen Gestank zu vermodern und – der innigsten Angst: dreihundert Mal pro Tag von rigorosen Karosserie-Besitzern umstandslos in den nächsten Straßengraben bugsiert zu werden.
    Wadenkrämpfe zuckten nachts durch meinen Schlaf, bizarre Geräusche im Wald verhinderten bisweilen jede Nachtruhe, einmal musste ich heimlich (und schnell) in den Kühlschrank eines Pfarrers greifen, einmal im Schweinsgalopp einem Bauern und seiner Mistgabel entkommen, einmal ein Polizeiauto besteigen, einmal an der Pforte eines Krankenhauses anklopfen, um auf Knien, ja bäuchlings, wenn es verlangt worden wäre, um eine Morphiumspritze zu flehen. So versaut waren die Füße, so in einem Blutbad schwimmend die Zehen, so drängend die Lust nach einem schmerzfreien, wohligen Dasein.
    Das Wunderlichste aber: Nie musste ich Zeit totschlagen, jede Minute war randvoll mit Leben. Denn ein solcher Fußmarsch ist das Gegenteil von virtuell, von Second Life , von Glotzen auf die trüben Pinsel und Pinselinnen, die sich in »Big Brother« oder in anderen Sendungen aus einer TV-Anstalt, einer Anstalt für die geistig Zurückgebliebenen, vorführen lassen. Ich brauchte nur meine beiden Achillesfersen zu betasten. Sie pochten, heftig, energisch. Was für ein Zeichen, dass ich existierte.
    Und das Überraschendste: Kein Eau de Toilette von Calvin Klein musste her, kein BMW mit eingebauter Popobacken-Heizung, kein Scheckbuch und keine Amex Platinum Card , um an den »phantastischen Erscheinungen der Welt« (so Goethe) teilzuhaben. Selbst ein Mann mit nichts, nur abgerissen, nur verschwitzt, nur jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang bankrott und keinen Zehn-Euro-Kredit wert, bekam ein Lächeln von jenen Frauen und jenen (weniger zahlreichen, weniger gebefreudigen) Männern, die am Wegrand standen und ihn versorgten. Mit heiteren Blicken, mit Erdbeeren und Drei-Gänge-Menüs, mit Erbsensuppen, mit Verbänden und Pflaster, mit Steaks plus Rotwein, mit selbst gebackenen Plätzchen, mit frischweißen Socken und einer mutigen, aber ja, Einladung zu einem Badewannenbad.
    Zuletzt – nach dem Zecheprellen im Berliner Nobelrestaurant Borchardt , wo ich mir ein Glas Champagner und eine Crême brulée bestellt hatte – war ich allen dankbar. Auch den Wichtigmachern und Hartleibigen, dankbar für ihre Moraltiraden, ihren Geiz, ihre Trostlosigkeiten. Hatte ich doch begriffen, dass man an viele Freuden und Abgründe nur zu Fuß rankommt, nur leibhaftig. So einfach kann das Leben bisweilen sein. Wer sich traut, geht drauflos: Er lebt. Wer nicht, fährt mit Bleifuß vorbei: Er ist schon satt.

    WELLNESS FÜR DOOFE
    »Herr Altmann, alles ausziehen!« Frau Roswitha bellte über den Gang durch meine Kabinentür. Ich zuckte. Wäre ich der guten Frau je auf der Straße begegnet, nie hätte ich mich bei dem Gedanken ertappt, mich vor ihr enthüllen zu wollen. Aber hier war die Resolute die Chefin, die Moorpackung-Chefin.
    Wie gern wäre ich vom Blitzlichtluder-Gen geschlagen. Dann würde ich blühen, wenn jemand zum Nacktsein aufforderte. Würde mich zeigen und von meinen neuen Warzen am Hintern, hätte ich welche, erzählen. Oder den hartnäckigen Inkontinenzbeschwerden meiner Gattin, hätte ich eine. Würde mich bloß legen wie jeder, der nie den Satz von Freud gehört hat, dass der »Verlust von Scham den ersten Grad von Schwachsinn bedeutet«.
    »Herr Pfeiferle, alles ausziehen!«, wieder gellte Roswitha. Der Mann war mein Kabinennachbar. Wir hatten uns kurz zuvor auf dem Korridor getroffen, ein angenehmer Herr, nur mordsdick und schwer nach Atem ringend. Ich litt jetzt doppelt: über die eigene Geniertheit und über die eines Dicken, der nun schutzlos und rosig schwitzend auf die Strenge warten musste.
    »Herr Altmann, auf die Liege legen, auf den Rücken!« Natürlich auf den Rücken. An Roswithas

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