Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
UNERTRÄGLICHKEIT DER STILLE
Der Mann zog einen Leiterwagen hinter sich her, New York City, Columbus Avenue. Ein blauer Sonntagnachmittag und ein glücklicher Mensch. Er führte sein Radio – groß wie ein Koffer – spazieren, das bis hinüber nach Harlem plärrte.
In Hongkong war es anders. Da war das Radio zu lang für einen Leiterwagen. Deshalb trugen sie es zu zweit. Wie eine Sänfte. Und im Gleichschritt. Stolz und hingegeben an Led Zeppelin, die live aus sechs Lautsprechern dröhnten.
Eine dritte Variante sah ich in Trujillo, Peru. Kein Leiterwagen, keine Sänfte. Dafür hatte jeder sein eigenes Gerät. Zur selben Zeit, am selben Platz, ohne Kopfhörer. Mitten in der Stadt. Und wieder war es Sonntagnachmittag.
Gibt es Unerträglicheres als Stille? Wohl nicht. Die Frage ist nur, warum? Warum dieses ununterbrochene Verlangen, von Orten und Menschen wegzugehen, die leise sind? Ist es die Leere in uns, die nichts Eigenständiges – Gedanken, Ideen, Phantasien – produziert und deshalb wie ein Fass ohne Boden permanent von außen vollgemacht werden muß?
Oder geht das tiefer? Kommt in geräuscharmen Momenten die fürchterliche Angst zum Vorschein, allein zu sein? Drückt nichts so sehr das schwerwiegende Gefühl von Einsamkeit aus wie Stille? Ist Stillsein gleich Einsamsein gleich Totsein? So dass jedes Mittel recht wäre, um diese tote Einsamkeit zu überwinden? Wie all die haltlos Einsamen, die zu Hause immer zuerst den Fernseher einschalten. Auch wenn sie nicht hinschauen. Hauptsache, eine Stimme redet. Und wäre es die eines Wildfremden.
Der Fall ist komplizierter. Ich gehe in eine Kneipe, randvoll. Und alle reden. Ausdauernd, hektisch, imponierend. Kommunikation, durchaus. Aber das will nicht reichen. Das viele Reden ist ihnen zu wenig. Zu still, hätte ich beinahe gesagt. Also Musik her. Aber wie. Brausend und aus allen vier Himmelsrichtungen. Jetzt schreien sie und erst jetzt scheint die Furcht aus ihren Gesichtern zu weichen.
Brauchen wir diesen Stress, die hundert Dezibel, um uns noch lebendig zu wissen? Um zu erfahren, dass wir noch existieren? Da doch der Alltag so alltäglich und lauwarm riecht. Wo nichts mehr uns versichert, dass es uns gibt. Als Einzelstück, mit einem Schicksal, mit Entdeckungen und Niederlagen, Gefühlsstürmen und Innigkeiten. Oder ist alles viel simpler? Viel geheimnisloser? Keine wütende Vertreibung der Ruhe, keine Panik weit und breit, eher die faulpelzige Gewöhnung an alles. An Kälte, an Mutlosigkeit, an die Abwesenheit von Stille. Ich weiß es nicht. Vielleicht helfen zwei Erzählungen, zwei Erfahrungen, die mit dem Phänomen zu tun haben.
»Come back«, hörte ich jemanden rufen. Ich schrak zusammen. Verstörter Blick auf den Mann, der vor mir stand. Jetzt erinnerte ich mich, Meditationsstunde in einem buddhistischen Tempel in Kioto. Ich hatte das Schlagen der Hölzer überhört, die das Ende der Sitzung ankündigten. Und Mönch Genko-san war an meinen Platz gekommen, um mich in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Erste Erfahrungen mit Stille, hier im Kloster. Nicht bewegen. Nicht sprechen. Nicht blicken. Nicht hören. Sprüche für Meister. Sprüche. Ich hörte fast immer. Meine eigenen Gedanken. Oder die anderer. Wie den von Gottfried Benn: »Gehen Sie in sich, wenn Ihnen nicht graust.« Der stimmte, so genau. Obwohl Benn nie auf einem Zafu saß. Er wusste es. Stille tat nicht gut. Das Hirn zappelte, wollte zappeln in einem Hexenkessel jagender Gedanken. Chaotisch, anstrengend, meist nutzlos.
Irgendwann wurde es besser. Irgendwann im Laufe der nächsten hundert, zweihundert Meditationsstunden. Der Kopf beruhigte sich, das Peitschen ließ nach, die Hirnströme verlangsamten, das Chaos wurde übersichtlicher. Dafür begann die Angst zu pochen, und sie flüsterte Fragen, die sich zielsicher ins Herz bohrten. Jetzt hatte ich die verdammte Stille, jetzt holte sie aus. Eiskalte, lautlose Fragen nach meinem Leben, seinem Sinn, seinem Wert, seinen Möglichkeiten. Und dem Mut, diese Möglichkeiten auszubeuten. Alles Fragen, die keiner beantwortete. Also blieben sie da. Wie Sperrmüll verpesten sie den Kopf.
Stille hat viele Schichten. Die nächst tiefere, in die ich mich – Wochen später, noch immer im Kloster – traute, war die Konfrontation mit der Einsamkeit. Ich sah mit gestochen scharfem Blick auf meine Geburt, sah, dass ich allein war. Ich sah es nicht, ich war es. Ein Katzensprung daneben: mein Tod. Wieder allein.
Das ist nicht meine Wahrheit, es ist die
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