Süchtig
wo Erin auf mich warten wollte. Tatsächlich stand sie vor dem Gebäude und sah aus, als hätte sie nichts zu verlieren. Ich ließ sie die Jacke ausziehen und durchsuchte sie, wie ich es bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen gesehen hatte, bevor ich sie einsteigen ließ.
»Fang an zu reden.«
»Was willst du von mir?«
»Lebt Annie noch?«
»Ich schwöre dir, ich habe keine Ahnung. Ich habe Annie noch nie gesehen und weiß überhaupt nichts von ihr. Du drehst allmählich durch, Nathaniel.«
»Romp Studios.«
Für einen Augenblick herrschte Schweigen.
»Woher weißt du davon?«, fragte sie scharf.
Ich griff in meine Brieftasche und zog den Polizeibericht heraus, den Danny Weller mir gegeben hatte.
Jetzt weinte sie wieder, fing aber endlich an zu reden. »Das dritte Jahr meiner Ehe war unerträglich«, begann
sie ihre Geschichte. Das lag weniger daran, dass ihr Ehemann sie schlug, was nicht allzu oft vorkam. Am schlimmsten war die Aussicht, ihr restliches Leben mit ihm verbringen zu müssen. Sie kam sich vor wie im Fegefeuer. Er wollte Kinder, aber sie nahm heimlich die Pille.
»Es sollte keine nächste Generation geben«, sagte sie.
Sie brach den Kontakt zu ihrer Mutter und den Freundinnen ab, die sie hätten kritisieren können. Stattdessen ging sie ganz in ihrer Kirchengemeinde auf, wo sie sich mit zwei Frauen anfreundete. Eine davon war eine Mutter von fünf Kindern, die sich nach außen hin zuckersüß gab, auch wenn sie in Wirklichkeit Gift und Galle spuckte. Für diese Frau war der Zerfall der Familie die Ursache allen Übels.
»Keine Ahnung, warum ich mich ihr anvertraute. Ich erzählte ihr alles, von der Pille bis zu meinen Eheproblemen. Vielleicht wollte ich, dass sie mir Absolution erteilte. Oder ich wollte erwischt werden.«
Die Frau rekrutierte Erin für ihren Kreuzzug. Sie sollte sich zu nächtlicher Stunde in ein kleines Gewerbegebiet am Rande der Stadt schleichen, wo sich in einem Hintergebäude das Büro von Romp Studios befand.
Erst bat sie, dann drohte sie damit, Erins Ehemann zu verraten, dass Erin die Pille nahm.
»Du wurdest also gezwungen?«
»Eigentlich nicht. Ich habe wie von Sinnen einen Benzinkanister über die ganze Chose geleert und mir dabei eingeredet, die Macher dieser Sexfilme seien genau wie mein Ehemann.«
Als sie erwischt wurde, ließ sie sich auf einen Handel ein und sagte als Kronzeugin aus.
»Dafür hasste ich mich noch mehr«, sagte sie. »Ich ließ mich von allen manipulieren. Als Mensch existierte ich gar nicht mehr.«
Mein Bauch sagte mir, dass das die Wahrheit war. Entlastet wurde sie dadurch nicht: Sie konnte offenbar extrem gewalttätig werden. Vielleicht hatte ein Vorfall im Café einen Ausbruch provoziert.
»Erzähl mir von Simon und Andy.«
»Hilfst du mir dann?«
»Du hast dir das alles selbst zuzuschreiben, Erin.«
»Ich habe nichts getan. Die Polizei sucht nach mir. Aravelo ruft mich jeden Tag an, aber ich bin unschuldig, das schwöre ich dir.«
Aravelo war also hinter ihr her. Natürlich. Mich interessierte nur, warum.
»Hatte Simon eine Affäre mit Andy?«
Erin nickte. Ich war nicht besonders erstaunt.
Zuerst hatte Andy auf die Kinder der Andersons aufgepasst. Weil beide Schriftsteller waren, dachte sie zuerst. Sie wollte nicht glauben, dass sich Andy zu Simon hingezogen fühlte. Immerhin war Andy ein guter Freund von ihr, und von Simon hielt sie überhaupt nichts. Dann dämmerte ihr allmählich, dass Andy vermutlich schwul war. Das erklärte auch, warum ihre Liebesbeziehung zu ihm nicht von Dauer gewesen war. Schließlich vertraute er sich ihr an. Simon war nicht sein erster Mann. Das Risiko schien überschaubar: Simon war verheiratet und nur auf Eroberung aus. Trotzdem fühlte sich Andy verletzt, als Simon ihn sang- und klanglos abservierte. Erin fühlte mit ihm.
»Und dann wurde er reizbar und gemein. Ständig war er müde«, sagte Erin.
»Litt Simon auch unter Kopfschmerzen? Verhielt er sich seltsam?« Sie zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Andy sagte, er hätte irgendwie Probleme, aber ich weiß nichts darüber.«
»Gab es im Café jemanden namens Tara?«
»Nein. Wer soll das sein?«
»Es ist wichtig.«
»Simon hat überall herumgeschlafen. Von Tara habe ich nie gehört.«
Sie schien tatsächlich nichts über die Frau zu wissen, die Andy in seinem Tagebuch erwähnt hatte.
»Du erzählst mir nicht alles.«
»Was willst du von mir?«, fragte sie. »Andy war mein bester Freund, und auf einmal war alles anders. Er war
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