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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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aufregen, schließlich sei Finn, das Baby, ja gar nicht von ihm, kein Mensch wisse, wer der Vater sei.
    »Va-ter-schafts-test! Va-ter-schafts-test!«, skandiert das Publikum.
    Ein Wahrheitstor ist eine lobenswerte Einrichtung, denke ich. Von mir aus könnte das in jede Mietwohnung eingebaut sein. Zu Tisch, Karl-Ludwig, aber vorher schnell noch ins Wahrheitstor! Im Ernstfall macht die Moderatorin Hausbesuche, um den Verdächtigen so richtig auszuquetschen.
    Die Vorstellung gefällt mir. Ich rufe Maja an, die erwartungsgemäß wenig davon hält.
    »Was soll das sein, die Wahrheit?«, sagt sie. »Und wem nützt sie? Das müssen wir uns fragen! Eine Wahrheit, die niemandem nützt, ist keine Wahrheit.«
    »Sondern?«
    »Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist sie nur eine Last. Was ist los, warum bist du plötzlich so moralisch.«
    Es ginge nicht um Moral, sage ich, sondern darum, was sich hinter den Dingen verberge. Ob es so etwas gebe wie ein Netz, das unsere Wirklichkeit strukturiere. Ein Gitter, in dem sich verfängt, was wir für wirklich und wahr halten.
    »Du hast zu viel Freizeit«, sagt Maja. »Da kommt man auf dumme Gedanken.«
    Wozu hat man eine beste Freundin, wenn man mit ihr nicht über Wahrheitstore diskutieren kann? Ich verzichte vorerst darauf, sie zu fragen, ob sie Raoul eine Visitenkarte gegeben hat.
    »Du bist nur dagegen, weil du den Lügentest nie bestehen würdest«, sage ich.
    Maja lacht. »Wenn du wählen könntest zwischen einem Volkstheater-Regisseur – schon etwas älter, aber intelligent und charmant, ein richtiger Sir – und, sagen wir: einem wahnsinnig gutaussehenden Kfz-Mechaniker, Marke Cola-light-Mann, wen würdest du nehmen?«
    Maja klingt, als hätte sie ihren Aperitif vorverlegt.
    »Wieso fragst du.«
    »Na sag schon«, sagt sie. »Welchen nimmst du.«
    »Keinen«, sage ich.
    »Schön«, sagt sie und gluckst. »Dann bleiben mir beide.«
    »Hast du was getrunken?«
    »Jürgen«, sagt sie. »Du erinnerst dich? Ich hab dir schon vonihm erzählt. Der Typ aus der Werkstatt. Der mir das Bremslicht repariert hat.«
    »Nein«, sage ich.
    »Er hat sich gemeldet. Sehr geehrte Frau Preblauer, hat er geschrieben. Die Scheibenwischer sind eingetroffen. Außerdem habe ich Ihnen eine Probefahrt mit dem Maserati versprochen. Ich bin bereit.«
    »Aha«, sage ich. Ich weiß, dass ich jetzt nach dem Regisseur fragen müsste, aber ich bereue schon jetzt, sie angerufen zu haben.
    Ich sehe auf den Bildschirm. Die Talkshow läuft ohne Ton weiter. Ich stelle mir vor, dass Maja der nächste Gast ist, der ins Wahrheitstor gestellt wird. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen, doch zwei Studio-Securities, Männer mit erstaunlicher Flügelspannweite, halten sie fest. Und dann kommt alles ans Studiolicht. Nicht nur Jürgen, sondern auch die beiden Pauls, Franz, der Biobauer, der sie beackern durfte, und Werner, der Künstler, dem sie Modell stand, aber nur fünf Minuten.
    »Warum lachst du«, fragt Maja.
    »Nichts«, sage ich. »Erzähl weiter.«

6
    »Wer ist in der Leitung?«
    »Helmut.«
    »Aus?«
    »Wörgl.«
    »Helmut wie noch?«
    »Ruppacher.«
    »Franz Ruppacher aus Wörgl. Ihre Antwort?«
    »Zwanzig Meter.«
    Eine Sirene macht ojojoj .
    »So ein Idiot!« Raoul schlägt auf das Lenkrad.
    Wir fahren die Südosttangente entlang. Dort, wo die Stadt ausfranst, hat sich Industrie breitgemacht. Auf beiden Seiten der Stadtautobahn blasen Fabrikschlöte ihren stinkenden Atem in den Himmel.
    »Helga, das ist Ihre Chance«, frohlockt der Moderator.
    »Hundert Meter«, sagt Helga. Fanfare.
    »Hättest du’s gewusst?«, fragt Raoul und wirft mir einen Seitenblick zu. Er grinst.
    Wir wissen beide, dass meine Eltern in diesem Moment ebenfalls Radio Eins hören. Sie werden uns begrüßen und die Fragen aus dem Quiz wiederholen, und wir werden so tun, als ob wir angestrengt nachdächten, bevor wir schließlich die richtige Antwort aufsagen. Mein Vater wird Raoul auf die Schulter klopfen und sagen: »Darauf trinken wir einen.« Sie wissen, dass wir die Antworten bereits kennen, und wir wissen, dasssie’s wissen, und dennoch spielen wir dieses Spiel wieder und wieder. Ich sage mir, dass ich nicht alles verstehen muss, was in dieser Familie vor sich geht, dass es verschlossene Türen und geheime Kammern geben muss. Dass sich ein Leben womöglich nicht an der Anzahl der gelösten Rätsel misst, sondern an der Anzahl der Geheimnisse, die man hinterlässt.
    Mein Vater, der als Buchhalter in der ROSENSTOLZ-Porzellan-Manufaktur

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