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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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arbeitete, pflegte etwa eine Leidenschaft, deren Reiz mir bis heute verborgen geblieben ist. Als wir noch in der Stadt lebten, legte er in seinem »Bastelzimmer«, wie er es nannte, Fundstücke aus, die er auf dem Heimweg von der Arbeit in der Straßenbahn gefunden hatte: bunte Steine, eine zerbeulte Getränkedose, ein Kinderschuh, ein Zettel mit einer Telefonnummer, die man nicht mehr entziffern konnte. Ein Museum der verwaisten Dinge. »Dreck«, nannte es meine Mutter. Sie weigerte sich, im Bastelzimmer Staub zu saugen. Der Gemeindebau, in dem wir wohnten, bestand aus mehreren Höfen, wir wohnten im Hof D, dritte Stiege, Parterre.
    Raoul kannte diese Wohnung nicht, natürlich nicht, wir zogen aufs Land, als ich zehn war, und wenn ich ihm davon erzähle, erwachen immer dieselben Erinnerungen: an die Gänsehaut auf meinen Armen, wenn ich in der Speisekammer hinter dem Mehl eine fette Spinne entdeckte. An das Geräusch, das entstand, wenn sich das Schnurren von Kater Orly mit dem sonoren Brummen des Kühlschranks vermischte. An den Geschmack des Vanillepuddings, den ich mit dem Puppenlöffel aß, um länger etwas davon zu haben. An Hausmeister Hribil, dessen hervorstechendstes Merkmal seine Habsburger-Unterlippe war, der in seinem Verhalten jedoch wenig adelige Zurückhaltung an den Tag legte: Er verfolgte uns Kindermit dem Besen drohend und trank abends Spiritus aus der Flasche.
    Der Bastelraum, ein fensterloses Kabinett neben der Eingangstür, war zuvor mein Kinderzimmer gewesen. Als ich älter wurde und dennoch klein blieb, beschloss meine Mutter, dass ich ins sogenannte Elternschlafzimmer umziehen sollte, weil es dort ein Fenster gab und Tageslicht, zumindest einige Stunden am Tag. Meine Mutter war der festen Überzeugung, dass ich Licht benötigte, um zu wachsen – wie ihr Gummibaum, der in einem Eimer vor dem Schlafzimmerfenster stand und dessen speckige Blätter einmal in der Woche mit Bier gereinigt wurden, damit sie glänzten.
    Als ich in die Schule kam, musste ich den Gummibaum versorgen. Meine Mutter kontrollierte jede Woche, wer besser gewachsen war: der Baum oder ich. Um den ungleichen Wettkampf zu gewinnen, bog ich den Stamm des Gummibaums täglich ein wenig zur Seite, so dass er bald ebenso gebeugt dastand wie Hausmeister Hribil am Ende eines Arbeitstages.
    Die Finte nützte nichts: Der Gummibaum war nun zwar keine Bedrohung mehr, was die Größe anbelangte, die Blätter aber schrumpelten wie achtzigjährige Haut, dagegen half kein Bier der Welt. Schließlich wurden sie gelbbraun und fielen ab. Panisch versuchte ich, die Blätter mit Superkleber am Stamm zu befestigen, doch die Natur ließ sich damit ebenso wenig täuschen wie meine Mutter. Das war meine erste Lektion in Ausweglosigkeit.
    Als wir dann auf dem Land wohnten, brachte mein Vater anfangs noch mehr »Dreck« von seinen Fahrten heim, denn nun fuhr er täglich zwei Stunden mit der Bahn. Er hatte es sich angewöhnt, einen Rucksack zu tragen. Abends war der Rucksackprall gefüllt. Er hatte sich im neuen Haus ein riesiges »Bastelzimmer« unter dem Dach reserviert, doch in den unendlichen Weiten des neuen Raums war die Freude verpufft. Wir spürten alle, dass er den beengten Verhältnissen in der Gemeindewohnung nachtrauerte.
    Seit kurzem war er einer neuen Leidenschaft verfallen: Monopoly. Da konnte er alles tun, was ihm bisher versagt geblieben war: Straßen, Häuser, Hotels und Energieanlagen nach Belieben kaufen, sich hoch verschulden, spekulieren und – mit einer gewissen Lust – ins Gefängnis wandern. Als ich ihn fragte, wie es dazu kam, dass er vom Sammler zum Spieler wurde, sagte er nur: »Ich probe den Ernstfall.« Er nickte, und ich nickte, und wir wussten beide, dass dieser Ernstfall niemals eintreten würde.
    Von mir, dem einzigen Kind, hatten sich die Eltern eine strahlende Karriere erhofft. Ich hätte die Melancholie lindern sollen, die sich langsam in ihrer Beziehung einzunisten schien. Dass aus meiner Medizinerlaufbahn nichts geworden ist, hat meinen Stand innerhalb der Familie nicht unbedingt verbessert. Mittlerweile haben sie sich damit abgefunden, so wie man sich mit kreisrundem Haarausfall abfindet.
    Raoul ist ein ungeduldiger Autofahrer, wir fahren beinahe die gesamte Strecke auf der Überholspur. Um Punkt zwölf biegen wir in einen zersiedelten Landstrich ein. Alle dreihundert Meter steht ein einsames Schlumpf-Haus inmitten eines verwilderten Gartens. Hin und wieder leuchtet ein blaues Quadrat hinter den Büschen hervor

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