Südbalkon
erwarte ein schlafendes Baby vorzufinden, so still ist es im Stiegenhaus, doch das Kind sitzt aufrecht im Wagen und mustert mich. Obwohl wir Ende August haben, ist es vermummt wie im Dezember. Es trägt eine Mütze, eine Daunenjacke und Fäustlinge. Seine Wangen sind dunkelrot und glänzen, bestimmt schwitzt es. Ein Anblick, der mir Unbehagen bereitet, am liebsten würde ich es sofort ausziehen, ihm die Mütze herunterstreifen, es von den Fäustlingen befreien. Weil das nicht geht, lächle ich das Baby an. Es lächelt zurück.
»Psst!«, mache ich und versuche, mich an der Wand entlang am Wagen vorbeizuschieben, doch der Zwischenraum ist lächerlich, viel zu schmal für eine Frau mit meiner Konfektionsgröße. Wir sind uns jetzt sehr nahe, das Kind und ich, es folgt aufmerksam jeder meiner Bewegungen. Ich fühle mich durchschaut.
Gerade, als ich merke, dass ich eingeklemmt bin, stürzt die Frau aus der Wohnung. »Einen Moment, ich befreie Sie!«, ruft sie und lacht, entriegelt die Bremse mit einem geübten Tritt auf ein verstecktes Pedal und rollt den Wagen zurück.
Ich sage: »Sie haben eine wunderbare Tochter«, und sie fühlt sich geschmeichelt, so als sei das Kind ein verlängerter Körperteil von ihr.
Sie ist bestimmt etliche Jahre jünger als ich, ihr Gesicht ist prall, ihre Haut makellos. Sie sieht aus wie eine französische Filmschauspielerin, deren Name mir stets entfällt. Francoise,Nicole, Marie – egal, ich bin wegen Maja hier, erinnere ich mich und gehe zu der Treppe, die hinaufführt.
»Bitte warten Sie einen Moment!«
Ich drehe mich um, sie winkt.
»Können Sie mir einen Gefallen tun?« Sie müsse Mineralwasserflaschen aus dem Auto herauftragen, sagt sie. Es dauere keine Minute, ob ich währenddessen auf Fanny aufpassen könne?
Fanny. Ich betrachte das Baby und denke: Ja. Sie sieht tatsächlich aus wie eine Fanny.
»Natürlich«, sage ich. »Gerne. Wir haben uns ja schon kennengelernt.«
Fanny lacht wie zur Bestätigung.
Schon läuft die Frau die Treppen hinunter, und ich bleibe unschlüssig neben dem Kinderwagen stehen.
»Na, du«, sage ich.
Das Baby lacht und zeigt mir zwei schneeweiße Schneidezähne. Das ermutigt mich, ich streichle über seine Backen. Heiße Haut, frisch aus der Produktion. Und dann überlege ich nicht lange, es ist wie ein Reflex, und ich streife Fanny die Strickmütze vom Kopf. Im selben Moment brüllt sie los, so als risse ich ihr die wenigen blonden Haare einzeln aus. Erschrocken stülpe ich ihr die Mütze wieder über den Kopf, doch es ist zu spät, der Schalter ist umgelegt. Ihre Ärmchen zittern, aus ihren Augen kullern Tränen, sie wendet ihr Gesicht von mir ab und der Wand zu, so als erhoffe sie sich von dort Rettung.
Ihre Mutter muss gleich zurückkommen, sie wird entsetzt sein über mein Unvermögen, ihr Kind einen Augenblick lang zu hüten. Ich versuche es mit einem alten Trick, verberge meinGesicht hinter meinen Händen, ziehe sie dann ruckartig weg und rufe »Guckguck!«, Fanny verstummt tatsächlich für die Dauer eines Atemzugs, doch sie holt nur Luft, um sogleich mit größerer Vehemenz weiterzubrüllen.
Ich müsste abhauen, einfach auf dem Absatz kehrtmachen und die Treppen hinunterlaufen, hinaus aus diesem Haus, doch dann höre ich Schritte und nehme wieder Aufstellung neben dem Kinderwagen. Fanny ist glühend rot im Gesicht, aus ihr spricht das ganze Elend der Existenz. Ich lehne mich an die Wand, ratlos, und betrachte das Baby und das kahle Stiegenhaus, und dann macht es plopp , und ich sehe mich plötzlich mit einem Baby die Wotangasse entlangspazieren. Mit meinem Baby. Mein Baby, das gluckst, sobald ich mich über es beuge, und das mir die Ärmchen entgegenstreckt, das ich hochnehme, das sich in meine Halskuhle kuschelt, warm und weich, das nach Milch riecht und nach frischer Hoffnung. Schon füllen sich meine Augen mit Tränen. Alles in mir ist eine einzige ungestillte Sehnsucht, und ich zwinge mich, die Tränen hinunterzuschlucken und an etwas anderes zu denken, an die Wurststückchen im Jasminstrauch der Eberweins, an Samsons Rinderfilets, an Lindas dummes Gesicht in der Boutique Monique, aber es hat keinen Sinn, es ist, als stürze eine Mauer ein. Und dann weinen wir beide, ein gut aufeinander abgestimmtes Duo der Enttäuschungen, und im Stiegenhaus verlöscht das Licht, als schäme es sich für uns.
Ich weiß nicht, wie lange sie schon vor mir stand, jedenfalls spüre ich mit einem Mal eine Hand auf meiner Schulter, und eine warme
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