Südbalkon
zittriger Stimme die Koordinaten der Verstorbenen, viele nahmen nicht einmal auf dem dafür vorgesehenen Stuhl Platz, sondern blieben auf der Schwelle stehen, wohl aus Angst, dass die Trauer sie bei Nachlassen der Körperspannung überwältigen könnte.
Nach der Arbeit ging ich oft ins Möbelhaus und setzte mich an einen der jungfräulichen Schreibtische in der Büromöbelabteilung, um ein bewusstes Gegengewicht zu schaffen zum tristen Interieur, das ich gerade verlassen hatte. Möbel ohne Geschichte, danach sehnte ich mich.
»Wenn’s sein muss«, sagt Maja, »kann ich dir das Geld borgen. Für den Schreibtisch.«
»Niemals«, sage ich. Soweit kommt’s noch.
Maja überreicht mir einen Zettel, darauf steht:
Geschäftsidee
Abgrenzung zum Mitbewerb
Alleinstellungsmerkmal
Positionierung
Zielgruppe
Marketingmaßnahmen
»Das füllst du aus bis zum nächsten Mal«, sagt sie. »Deine Hausaufgabe. Im Prinzip muss ich gleich zum nächsten Termin.«
Ich sehe auf das Blatt und sage die magischen Worte leise vor mich hin, ich sage Marketing und Geschäftsidee und Positionierung , und erst als Maja schon im Labyrinth der Gänge verschwunden ist, fällt mir ein, dass ich vergessen habe, ihr die Linse zurückzugeben.
12
Ich muss wohl eingenickt sein, denn als sich etwas Spitzes in mein Schulterblatt bohrt, schrecke ich hoch. Eine Waffe? Ich drehe mich um und stelle mit Erleichterung fest, dass es sich um eine Tasche handelt. Eine Lacktasche mit scharfkantig abgenähten Rändern, und sie hängt in der Armbeuge einer alten Frau. Die Frau ist mindestens neunzig Jahre alt, in den Furchen ihres Gesichts hat sich der Staub aus mehreren Kriegen eingelagert. Gebeugt steht sie da und hält sich an der Lehne meines Sitzes fest. Rücken und Unterkörper bilden beinahe einen rechten Winkel, ihr Kopf ist an einem dürren Hals befestigt und ragt aus ihrem Blusenpanzer hervor wie der Schädel einer Schildkröte. Wann immer die Straßenbahn bremst, bohrt sich ihre Tasche in meine Schulter.
Die Alte erwidert meinen Blick mit einem missbilligenden Kopfschütteln, und ich frage mich, ob ich mir etwas habe zuschulden kommen lassen. Mit einem Mal weiß ich es: Sie fordert ihr Recht auf einen Sitzplatz ein. Du sitzt und sie steht – ein Skandal. Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, da springe ich schon auf und gebe meinen Platz frei. Als ich zufällig aus dem Fenster sehe, merke ich, dass ich ohnehin aussteigen muss, und dränge zur Tür. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass die alte Frau immer noch steht. Weshalb setzt sie sich nicht?
Die Straßenbahn hält vor dem Anatomie-Institut der Medizinischen Universität mit seiner pathologischen Fassade: abblätterndeFarbe, trauriger Stuck, blinde Fenster. Ich biege in die Wotangasse ein und erwarte einen modernen Bürokomplex mit Glasfassade, doch die Nummer 17 ist ein in die Jahre gekommenes Wohnhaus, das aussieht, als würde es von den Nachbarhäusern gestützt.
Ich lese die Namen an der Gegensprechanlage .
Maja Preblauer / Coaching ist eingezwängt zwischen Kallinger und Böck . Ich läute kurz, so wie man es macht, wenn man eigentlich nicht stören will. Es ist halb sechs. Vom Arbeitspensum einer Existenzberaterin habe ich keinen blassen Schimmer. Stille. Ich halte mein Ohr an die Gegensprechanlage, aber da ist nichts, kein Ton. Ich läute noch einmal, diesmal mit Nachdruck.
Mit einem Mal wird die Tür von innen geöffnet, ein Mann im leichten Sommermantel hält die Tür auf. »Möchten Sie hinein?«
Ich zögere, was habe ich im Haus verloren, wenn Maja nicht da ist? Doch ich beschließe, drinnen auf sie zu warten und mich gleich ein wenig umzusehen.
Der Hausflur ist eng und dunkel. Es riecht nach Hund. An den Türen hängen Kränze aus verwelkten Blüten, vor den Schwellen liegen verfilzte Matten. Alles wirkt nachlässig, an der Grenze zum Schäbigen. Dieses Haus sieht Maja nicht ähnlich.
Im zweiten Stock versperrt ein voluminöser Kinderwagen den Weg. Der Wagen steht vor einer sperrangelweit geöffneten Tür. Ich erahne den Schnitt der Wohnung: ein Flur, von dem alle Zimmer abgehen. Erste Tür rechts bestimmt die Toilette, dann das Bad, geradeaus das Wohnzimmer, ich sehe den Zipfel eines grauen Langflorteppichs, das Eck einer Wohnwand,den Rücken einer jungen Frau, die einen Einkaufskorb abstellt.
Ich versuche, den Kinderwagen ein wenig beiseite zu schieben, doch er lässt sich nicht bewegen, die Bremsen sind arretiert. Ich werfe einen Blick hinein und
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