Südbalkon
sitzt diese Frau neben mir, die aussieht wie eine französische Schauspielerin, und blickt mich aus grauen Augen an, und es ist ihr Arm, der meinen Arm umfasst. Ich brauche einen Moment, um zu mir zu kommen: Da liegt dieses Baby auf der Decke und tut es seiner Mutter gleich, vier Augen, die auf mich gerichtet sind, und dann ist alles wieder da. Maja, die Kontaktlinse, die Wotangasse.
»Ich muss gehen«, sage ich und beeile mich aufzustehen, und Simone sagt: »Alles in Ordnung?«
»Danke für die Übung«, sage ich.
»Das ist immer schon in dir gewesen«, sagt Simone. »Alles Wissen war immer schon in dir.«
Simone begleitet mich zur Tür und hält mich dabei am Arm fest, als sei ich gebrechlich, und ich habe tatsächlich Lust, michmit meinem ganzen Gewicht auf sie zu stützen und dorthin zu gehen, wohin sie geht.
»Wir freuen uns über deinen Besuch«, sagt sie, »du bist jederzeit willkommen.«
Ich nicke.
Sie sagt: »Ich meine das ernst, Ruth«, und ich will sagen, dass auch mein Nicken ernstgemeint war, aber etwas hindert mich am Sprechen, ich winke nur unbeholfen.
Das Ganglicht schmerzt in den Augen. Mit Leichtigkeit könnte ich nun am ordnungsgemäß geparkten Kinderwagen vorbei in den dritten Stock steigen und bei Preblauer / Coaching läuten, doch es ist, als zöge mich jemand an einer unsichtbaren Schnur die Treppen hinunter.
Die Wotangasse ist voller hoffnungsfroher Studenten, die ihre Skripte unterm Arm tragen, und ich reihe mich ein in den Strom, als sei ich eine von ihnen.
13
Raoul müsste eigentlich daheim sein, wieso stehen seine Schuhe dann nicht vor unserer Tür? Ich ziehe den Schlüssel aus der Tasche und sperre auf. In diesem Moment streckt Frau Eberwein ihren weißen Lockenkopf durch ihre Tür.
»Es ist was passiert«, sagt sie.
»Guten Abend«, sage ich und schlüpfe aus den Schuhen.
»Mit dem Herrn Gemahl ist was passiert«, sagt Frau Eberwein.
»Das tut mir leid«, sage ich.
»Mit Ihrem Herrn Gemahl«, sagt Frau Eberwein.
Ich zögere an der Schwelle.
»Was soll mit ihm passiert sein?«
»Der Notarzt war da. Und hat ihn mitgenommen.« Frau Eberwein ist sichtlich zufrieden, dass sie mir die schlechte Botschaft überbringen kann.
»Zwei junge Männer haben ihn hinausgetragen. Auf einer Bahre. Ich hab ihm noch nachgerufen, ob er etwas braucht. Aber er hat nicht geantwortet.«
»Wie – nicht geantwortet. Was meinen Sie?«
»Er war ganz fahl im Gesicht, ganz fahl. Aber regen Sie sich nicht auf, Fräulein.«
Ich betrete die Wohnung ohne ein weiteres Wort. Eine Stimme in mir sagt: Das kann nicht sein. Sie will sich bloß für den Wurstangriff rächen. Ich gehe auf Zehenspitzen durch die Wohnung, vorsichtig und aufmerksam, so als besichtigte ichsie das erste Mal. Keinerlei Anzeichen eines überhasteten Aufbruchs. Im Gegenteil – Raoul hat in meiner Abwesenheit die alte Ordnung wiederhergestellt, alles ist an seinem Platz: der Couchtisch, die Kissen, die Handtücher, mit denen wir die Tabuzone eingezäunt hatten. Keine Spur eines Kampfes oder Zusammenbruchs. Kein verschütteter Wein, keine Blutspuren am Boden oder auf dem Sofa. Ich gehe in die Küche, öffne den Kühlschrank und schließe ihn wieder. Ich fahnde in den Küchenkästen und auf dem Fußboden nach Hinweisen, ich wende Polster und Decken. Die Wohnung tut so, als sei nichts geschehen, und vielleicht hat sie ja recht, und es ist ein falscher Alarm, ein Missverständnis.
Ich wähle Raouls Nummer. Es tutet dreimal, dann springt die Mailbox an . Das ist der Anschluss von Raoul Litzka. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem –
Ich lege auf und setze mich an seinen Schreibtisch, um meine Gedanken zu ordnen.
In der Früh zeigte ich ihm noch die Kontaktlinse, und er lachte und sagte, dass Maja sich glücklich schätzen könne, Freunde wie uns zu haben, schließlich sei die Kontaktlinse nur dank seiner umsichtigen Einzäunung des Tatortes und dank meines guten Auges wieder aufgetaucht. Und dank meiner Ferse, fügte ich in Gedanken hinzu. Raoul bot an, Maja die frohe Botschaft samt Linse zu überbringen, ich lehnte ab, da ich sie ohnehin treffen würde. An mehr erinnere ich mich nicht. Keinerlei Auffälligkeiten. Raoul rauchte noch zwei Zigaretten auf dem Balkon, bevor er seine Computertasche packte. Ich versuche, mich an Details zu erinnern. Ob er angekündigt hatte, besonders spät nach Hause zu kommen, ob er eine Verabredung mit Willi hatte.
Ich rufe bei den Barmherzigen Brüdern an und bei den Barmherzigen
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