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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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einatmest.«
    »Schmerz? Welchen Schmerz?«
    »Den der anderen. Den Schmerz eines Freundes oder einer Bekannten, ganz gleich. Du kannst, wenn du willst, auch denSchmerz der ganzen Welt einatmen, aber das rate ich dir nicht. Als Anfängerin solltest du dich auf einfache Dinge konzentrieren. Alles klar?« Sie blickt auf meinen Bauch.
    »Tief einatmen«, sagt sie. »So ist es gut. Entscheide nun, an wen du denken möchtest.«
    Ich fühle dieselbe Schwere in der Herzgegend wie vorhin auf dem Gang, als ich auf Fanny aufpassen musste. So als läge eine Metallplatte auf meiner Brust, ich muss gegen diese Platte atmen, die alles niederdrückt, und als ich fast platze, sagt Simone: »Und beim Ausatmen atmen wir Glück in jene Person, deren Schmerz du vorhin eingeatmet hast – und gleichzeitig hin zu allen, die dasselbe Schicksal erleiden.«
    Ich lasse die Welt außen vor, ich denke nur an mich, mich, mich, und Simone sagt, die Atmung heiße Tonglen , und Tonglen sei das Leben und weitere Dinge dieser Art. Das sei alles, was ich wisse müsse, sagt sie, und ich freue mich, dass es so einfach ist. Ein und aus. Wobei ich mir unter Glück nicht das Geringste vorstellen kann. Ich kenne das Nicht-Unglück, das vorsichtige Balancieren an der Kante, kurze Momente des Friedens. Als könne sie meine Gedanken lesen, sagt Simone, dass Glück nicht fassbar sei, ich solle mir vielmehr eine Situation in Erinnerung rufen, in der ich mich ohne Einschränkung wohl und eins mit mir selbst gefühlt hätte. Ich suche nach dieser Erinnerung, wie man einen abgelegenen Ort auf einer Landkarte sucht, und steuere bekannte Bezugspunkte an – einen Berg, eine größere Stadt, eine Autobahn.
    Und mit einem Mal sitzt Raoul mir gegenüber, er lächelt mich an, ich sehe mich um, wir sind in einem chinesischen Restaurant, Lu Chang steht in gewundenen Lettern auf der Speisekarte, rote Lampions baumeln von der Decke, es ist Winter,draußen liegt Schnee, der Raum ist überheizt. Zwischen uns schwimmt eine Ente in süß-saurer Sauce, wir haben sie noch nicht angerührt, dafür legt Raoul meine Hand vorsichtig in seine. Obwohl ich erst hungrig war, fühle ich mich schon gesättigt und möchte meinen Kopf auf den Tisch legen, so müde bin ich plötzlich. Wäre die Ente nicht gewesen, hätte ich es auch getan.
    Ich solle mich nicht anstellen, hatte der Arzt am Vortag gesagt, als das Urteil feststand: Die Schwangerschaft ist beendet. Keine Katastrophe, hatte er gesagt, die Natur sortiere eben manchmal Unbrauchbares aus, die Guten ins Töpfchen, die Schlechten – na, Sie wissen schon, Frau Amsel. Froh solle ich sein. Froh und glücklich, dass alles so glimpflich verlaufen sei. Er hatte tatsächlich »Unbrauchbares« gesagt, so als hätte ich versucht, ein Kernkraftwerk aus Seidenpapier zu basteln, als hätte ich mir etwas vollkommen Absurdes angemaßt, von dem von vornherein feststand, dass es schief gehen musste.
    Die Diplome an den Wänden verliehen ihm die Autorität, über meinen Körper zu urteilen, ihm ein Nichtgenügend zu verpassen, nicht zufriedenstellend, kein Aufstieg in die nächsthöhere Klasse.
    Hinter dem Vorhang zog ich meinen unfähigen Körper wieder an, ich bedeckte ihn mit jenen Textilien, die ich zuvor dort zurückgelassen hatte, und wischte meine Tränen in den Vorhangstoff, in den dünnen, beinahe transparenten Volant mit seinen verlogenen Blümchen, ich fragte mich, wie viele Frauen schon in den Stoff geweint hatten, er musste doch mittlerweile tränengesättigt sein.
    Im Chinarestaurant ist es klebrig warm, eine Höhle, ausgekleidet mit schweren Stoffen, selbst die Kellner tragen Uniformen,die an Tapisserien erinnern. Wir sprechen kaum, aber Raoul besetzt meine gesamte Wahrnehmung, als hätte er sich ausgedehnt in alle Richtungen, wie ein Marshmallow, das man ins Wasser tunkt.
    Es ist ein kein Glück, das ich fühle, doch es ist auch kein Unglück, es ist etwas anderes, Schwereloses. Wir trinken Reiswein, bis die Tapisserien an der Wand vor meinen Augen zu einem blutroten See zerfließen. Raoul umfasst mit seiner Hand meinen Ellenbogen, ein fester, dennoch sanfter Griff, und ich schließe die Augen. Wieso muss dem Glück immer ein Schmerz vorangehen, denke ich, und als Raoul fragt: »Wie geht es dir, Ruth«, bin ich irritiert, mit seiner Stimme ist etwas nicht in Ordnung, vielleicht ist es der Reiswein, vielleicht hat er sich vorhin erkältet, als wir durch den Schnee zum Restaurant gestapft sind.
    Und dann öffne ich die Augen, und da

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