Südbalkon
Schwestern. Ich rufe im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien an, im Rudolfiner-Krankenhaus, in Lainz, im Hanusch-Krankenhaus, im Goldenen Kreuz und im Göttlichen Heiland. Niemand hat von einem Raoul Litzka gehört. Als ich in der Magenbuch-Klinik anrufe, habe ich mich schon wieder beruhigt, und auch als die freundliche Stimme am Telefon bestätigt, dass ein Raoul Litzka heute eingeliefert wurde, bin ich davon überzeugt, dass es sich um nur ein Missverständnis handeln kann.
»Sind Sie sicher?«, frage ich. »Raoul Litzka? Nicht etwa Paul?«
»Raoul Litzka«, sagt sie. »Heute eingeliefert.«
»Gibt es mehrere Raoul Litzkas? Ist das ein häufiger Name? Werden öfter mal Raoul Litzkas eingeliefert?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagt sie.
»Sind Sie da ganz sicher?«
»Fühlen Sie sich wohl?«, fragt die Frau am anderen Ende der Leitung.
Womöglich kommt sie noch auf die Idee, mich mit dem Zentrum für seelische Gesundheit zu verbinden. Ich lege rasch auf.
Abends gehe ich nicht gerne durch den Kaminsky-Park. Die Bäume sind Gerippe, die in den Himmel wachsen, und auf den Bänken rotten sich Obdachlose zu Weißweinpartys zusammen. Ich laufe am Café Kurbel vorbei. Die Stühle sind mit Eisenketten an die Tische gefesselt. Der Krankenhauspark liegt verlassen da.
Ich war erst einmal in der Magenbuch-Klinik drin, und dasist lange her. Ich wurde von meinen Eltern genötigt, Frau Weinzierl zu besuchen. Das sei ich ihr schuldig, sie habe ja mit viel Geduld und Glauben die Grundlagen meines Klavierspiels gelegt, sagte meine Mutter. Der Segen des Papstes hatte offenbar aufgehört zu wirken. Die anderen Schüler und ich, wir schritten mit gesenktem Kopf durch die Gänge des Krankenhauses, jeder Einzelne von uns verkorkst durch die weinzierlsche Musikfolter. Den Krankenhausgarten in seiner heutigen Form gab es noch nicht. Nur eine Grube und einen Schotterberg, den wir von den Fenstern des Korridors aus betrachteten.
»Da werfen sie die Kaputten rein«, meinte einer.
Wir betraten das Krankenzimmer wie eine Kirche. Frau Weinzierl lag auf der zweiten Internen. Ich dachte, dass man den Patienten Schulnoten gab, je nachdem, wie sorgfältig sie dem Krankheitsgebot folgten. Frau Weinzierl war demnach ziemlich krank, zählte aber offenbar nicht zu den Sterbenden, sonst hätte man ihr die Bestnote gegeben und sie auf die erste Interne verlegt.
Jemand hatte ihr einen der Rosenkränze gebracht, die auf ihrem Klavier gelegen hatten, ich erkannte ihn sofort. Nun aber verblasste er neben der Schnabeltasse und dem Glas mit ihrem Gebiss. Wir stellten uns im Halbkreis um ihr Bett und sahen sie neugierig an. Eine Handvoll Klavierschüler waren wir, die meisten unbegabt. Frau Weinzierl hielt die Hände gefaltet, so als sei sie schon tot. Ihr Brustkorb bewegte sich unter der dünnen Decke in maßloser Anstrengung. Keiner sprach ein Wort. Wir standen nur da und hörten ihrem Keuchen zu, diesem Atmen, mit dem sie doch kurz zuvor noch ein scharfes »D-Dur ist das, D-Dur, Himmel!« einbegleitet hatte.
Das hier war nicht die Frau Weinzierl, die ich gekannt hatte. Ihr Kopf war geschrumpft, die voluminöse Frisur verschwunden, ein Vogelkopf war das, was da auf dem Kissen lag. Aus der Armbeuge von Frau Weinzierl ragte ein Schlauch, rund um die Einstichstelle hatte sich die Haut blauschwarz verfärbt. Der Oberarm hingegen war seltsam farblos und geschwollen. Über der Lehne eines Besucherstuhls hing eine lila Strickweste, die aussah, als hätte sie jemand in großer Eile darübergeworfen. Doch in diesem Zimmer gab es keine Eile. Überhaupt gab es keinerlei Bewegung. Nicht einmal die Luft zirkulierte.
Ich suchte mir ein neues Detail: Am Bettrahmen war die Fieberkurve montiert. Brigitte Weinzierl stand darauf. Ich las es noch einmal. Brigitte Weinzierl. Brigitte. Sie hatte also einen Vornamen. Bisher dachte ich, sie hieße Weinzierl, ohne was davor. Frau Weinzierl, das reichte allemal für eine Klavierlehrerin, dachte ich. Ich flüsterte »Brigitte« vor mich hin. Brigitte. Brigitte. Durch den Vornamen gewann die Szene an Dramatik. Ich wünschte mir, die Ärzte könnten sie retten, damit ich Gelegenheit bekäme, sie neu zu betrachten. Fortan würde ich ihren Vornamen mitdenken, so wie ich zuvor den Papst bei ihr mitgedacht hatte.
Allerdings änderte der plötzlich aufgetauchte Vorname nichts am Verlauf ihrer Krankheit. Kurze Zeit später erhielten wir ein schwarz umrandetes Kuvert. Es lag einige Tage auf dem Küchentisch, keiner
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