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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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traute sich, es zu öffnen. Schließlich ging meine Mutter dran, schlitzte es mit dem guten Fleischmesser auf und entfaltete eine Todesnachricht. Zwei betende Hände. Unsere Toten sind nicht abwesend, sondern nur unsichtbar. Sie schauen mit ihren Augen voller Licht in unsere Augen voller Trauer. (Augustinus)
    Meine Mutter sagte: »Gott sei Dank nur die Weinzierl«, und ich verstand nicht, warum sie »nur« sagte und sich dafür beim lieben Gott auch noch bedankte.
    In der Todesnachricht stand sogar noch ein zweiter Vorname: Brigitte Eleonore Weinzierl. Ich versteckte den Brief in meinem Bücherregal, zwischen Fröhliche Tage für Hanni und Nanni und Hanni und Nanni gründen einen Club .
    Daran erinnere ich mich, als ich nach so vielen Jahren, in denen ich immer den nötigen Sicherheitsabstand bewahrt habe, vor den Haupteingang trete. Ein gläsernes Maul, das sich artig öffnet. So oft hatte ich die äußere Schale dieses Gebäudes betrachtet, die Anordnung der Fenster, die Geometrie der Schatten an den Wänden, den Krankenhausgarten, der im Mondlicht seine romantische Seite hervorkehrt.
    Hart und kalt hingegen ist die Innenbeleuchtung der Klinik. Ich erwartete eine Lobby, zumindest eine Pforte, einen Informationsbereich, doch ich finde mich in einem gekachelten Gang wieder, der gepflastert ist mit Verbotsschildern: Telefonieren verboten , Essen verboten , Ballspielen verboten . Dazwischen ein Ölbild, das Johann Magenbuch zeigt, Mediziner und Leibarzt im fünfzehnten Jahrhundert, offensichtlich verbittert ob der vielen Verbote in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.
    Vom Gang führt eine Stiege ins Souterrain, dort befinden sich Radiologie, Pathologie, Labor. Im ersten Stock sind Interne I und II untergebracht, Chirurgie, Unfallchirurgie, Kinder- und Jugendheilkunde, HNO, die Ambulanzen.
    Endlich ein Glaskasten, und er ist besetzt, zum Glück.
    »Raoul Litzka«, sage ich. »Dringend. Wo liegt er?«
    »Ich bin in Ausbildung«, sagt eine sehr junge Schwester. Sie sieht aus wie elf.
    »Litzka«, wiederhole ich. »Ludwig, Ida, Theodor, Zeppelin, Konrad, Anton.«
    Sie drückt auf der Computermaus herum.
    »Der Computer ist eingeschlafen«, sagt sie.
    »Dann wecken Sie ihn auf«, sage ich.
    »Wie sagten Sie? Lischka?«
    »Litzka.«
    »Geboren?«
    Wann ist Raoul geboren?
    »Egal«, sage ich. »Hier geht’s nicht um einen neuen Pass. Ich brauche nur die Zimmernummer.«
    Sie sieht mich ratlos an.
    »Ich benötige aber –«
    »Hören Sie mal«, sage ich. »Wenn Sie nicht sofort die Zimmernummer rausrücken, dann –« Ich überlege kurz. Dann schlage ist alles kurz und klein klingt nicht glaubwürdig. Dann beschwere ich mich beim Patientenanwalt schon eher. Doch noch bevor ich etwas sagen kann, seufzt sie und sagt: »Interne eins, Zimmer vierhundertfünfzehn, folgen Sie der blauen Linie auf dem Boden.«
    Schon laufe ich den Gang entlang und sehe Raoul vor mir, wie er sich über das Würstchenwasser beugt, wie er mich lächelnd vom Balkon in die Wohnung zieht, Begehren im Blick, wie er zu mir sagt: Du bist meine Familie , seine Worte hallen in meinem Kopf, und im Rhythmus meiner Schritte flehe ich: Bitte, bitte, lass es nichts Schlimmes sein, bitte, bitte, nur nichts Schlimmes, bitte, bitte.
    Raoul liegt unter einem großen rechteckigen Fenster, das einen Ausschnitt des Kaminsky-Parks einrahmt. Ich steuere sofort auf sein Bett zu. Wie ist es möglich, dass er so abgemagert und schmal wirkt? Vor wenigen Stunden sah er noch aus wie das blühende Leben und verschlang mit großem Appetit drei Brote und ein kernweiches Ei.
    Als er meine Schritte hört, öffnet er die Augen.
    »Ruth.« Seine Stimme ist brüchig.
    »Raoul, was ist passiert?«
    »Meine Haut«, sagt er schwer atmend, »meine Haut brennt.«
    »Deine Haut?«
    Ich greife nach seinem Arm, der kraftlos auf dem Laken liegt. Ich scanne die freiliegenden Partien, seinen Hals, das Gesicht.
    »Ich kann nichts sehen, hast du dich verbrannt?«
    Er schüttelt den Kopf. »Nicht verbrannt.«
    »Was dann?«
    Er hebt die Hand, lässt sie erschöpft auf das Bett fallen.
    »Sie wissen es nicht.«
    »Wer – sie? Die Ärzte?«
    »Sie können nichts entdecken.«
    Sie können nichts entdecken? Ich schwanke zwischen Erleichterung und Sorge.
    »Hast du Schmerzen? Wann haben sie dich geholt?«
    Er antwortet nicht, atmet aber ruhig, seine Augen sind geschlossen.
    Mir ist übel und schwindelig, ich sehe mich nach einem Stuhl um. Jetzt erst bemerke ich die anderen Patienten. Ein alter Mann

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