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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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Glücksatmung muss auch unter Wasser funktionieren, ich schlucke Wasser und schlucke und schlucke. Ich will nicht ertrinken. Huste!, sage ich mir vor. Huste. So lange, bis ich wirklich husten muss.
    »Alles in Ordnung?«
    Vor mir ein junger Mann in Weiß. Lächelt. Bin ich an Land? Gerettet?
    »Ich habe keine Liegegenehmigung«, flüstere ich.
    »Dachte ich’s mir doch«, sagt der Mann.
    Ich setze mich auf. »Sind Sie Arzt?«, frage ich schnell.
    »Tut mir leid. Damit kann ich nicht dienen.«
    Auf Höhe der Brust ist sein Name eingestickt: Pawel Pini. DGKP .
    DGKP?
    »Ich bin Pfleger«, sagt er. »Guten Morgen.« Er lächelt.
    »Wie spät ist es?«
    »Fünf.«
    Fünf? Da ist etwas vollkommen aus dem Ruder gelaufen, weshalb bin ich nicht in meinem Bett?
    »Ich brauche einen Arzt«, sage ich schnell. »Dringend.«
    »Vor sieben werden Sie keinen finden«, sagt er. »Bis auf Malik, den Turnusarzt. Empfehle ich Ihnen aber nicht, der übt noch. Haben Sie Schmerzen? Ich begleite Sie in die Ambulanz.«
    Ich springe aus dem Bett. »Es geht nicht um mich«, sage ich. »Ich wollte nur zwei Minuten ausruhen.«
    »Schon gut.« Er zieht das Laken straff. »Dafür sind die Betten doch da.«
    Ich laufe den Gang hinunter, noch ist nicht alles in meinem Kopf wieder am richtigen Platz, und als mir der Pfleger »Ich wollte Sie nicht verscheuchen!« nachruft, drehe ich mich um und winke. Und da steht er, lässig an die Wand gelehnt, und winkt zurück.
    Die Luft ist glasklar, die Vögel zwitschern vor einem orangefarbenen Himmel, der sich für den Tag bereitmacht. Tau auf dem manikürten Rasen im Kaminsky-Park. Unter anderen Umständen hätte ich mich an diesem Morgen sattgesehen, so aber laufe ich mit gesenktem Kopf durch den Park, durch die Palffygasse, durch die Bertagasse, durch die Przewalskistraße zum Bruno-Kreisky-Hochhaus.
    Es war der Straßenname, der mich zuerst erobert hatte; eine Erinnerung aus jener Zeit, als ich noch in der lichtlosen Kammer neben der Eingangstür schlief. Mein Vater erzählte mir eines Abends die rätselhafte Geschichte der Przewalski-Pferde. Diese mongolischen Wildpferde, sagte er, verschwanden von einem Tag auf den nächsten vom Erdboden, und keiner hat sie mehr gesehen. Während er erzählte, saß er nicht an meinem Bett, sondern blieb im Türrahmen stehen. Ich lag bereits unter der Bettdecke, als er zu seinem Vortrag ausholte. Ihren unaussprechlichen Namen, sagte mein Vater, verdankten die Pferde dem russischen Offizier und Forschungsreisenden Nikolai Przewalski, der sie das erste Mal beschrieben hatte. Offenbar besiegelte bereits dieser Name die Vorläufigkeit ihrer Existenz. Das sagte mein Vater zwar nicht, doch ich frage es mich noch heute: Ob die Bürde eines komplizierten Namens nicht das Schicksal herausfordert. Ob ich meine Kinder nicht Anna und Karl nennen sollte. Oder Maria und Franz.
    Wenn man von Przewalski-Pferden träume, sagte mein Vater, dann bedeute es, dass etwas Wichtiges im Leben verloren gehe oder etwas Großen hinzukomme, das hinge ganz von der Situation ab. Daran hatte ich auch denken müssen, als wir uns mit dem Makler vor dem Bruno-Kreisky-Hochhaus getroffen hatten. Kurz zuvor waren die Wildpferde durch die Steppemeiner Träume galoppiert, und ich dachte, dass sich die Prophezeiung nun erfülle, er hatte die Wahrheit gesagt, etwas Großes trat in mein Leben: ein Hochhaus.
    Der Aufzug hat mich noch nie enttäuscht. Leise schnurrend trägt er mich in den zwölften Stock. Das ganze Haus scheint noch zu schlafen. Nur der Zeitungsbote war bereits hier. Die Zeitungen liegen auf den Fußabtretern, dick wie Bücher, aus allen Ritzen quellen bunte Werbebeilagen. Nur vor meiner Tür liegt keine Zeitung, ich habe mich immer dagegen gewehrt, das Unglück der Welt schon vor dem Frühstück in unsere Wohnung einzuladen.
    Duschen, Umziehen, Ausruhen, das ist der Dreischritt der nächsten beiden Stunden, danach werde ich mich wieder ins Krankenhaus begeben, wie eine Mutter, die ihren kranken Sohn nicht aus den Augen lässt.
    Als ich aus der Wanne steige, läutet das Telefon.
    »Hallo«, sagt Raoul.
    »Wie geht es dir«, frage ich und bin selbst erstaunt über meine kühle Stimme.
    »Hänge an einer Infusion«, sagt er. »Kochsalzlösung.«
    Ich habe große Lust, mir eine Zigarette anzuzünden und tief zu inhalieren. Die Anspannung wegrauchen, so wie früher. Ich sehe ihn vor mir in seinem elektrisch verstellbaren Krankenhausbett, während die beiden Verrückten einander anbrüllen und

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