Südbalkon
die Seite.
Wie es angefangen hat, denke ich und sehe aus dem Fenster.
Wie es angefangen hat.
Eines Tages stand er in der offenen Tür. Schlaksig, Jeans, blaues Polohemd mit aufgestelltem Kragen. So hat es angefangen. Werden Sie auch notieren, was er als Erstes gesagt hat, Schwester?
Ob er hier richtig sei, hat er gefragt. Und einen schwarz umrandeten Zettel in die Höhe gehalten.
»Bin ich hier richtig?«
»Genau richtig«, sagte ich.
Es war in meiner ersten Woche in der Todesanzeigenredaktion. Ich war hungrig und müde, die Anzeigen mussten bis vierzehn Uhr in die Bildbearbeitung.
»Hubert Osterloh«, sagte er.
»Ruth Amsel«, sagte ich und deutete auf den Stuhl. »Nehmen Sie bitte Platz.«
»Nein«, sagte er. »Hubert Osterloh ist der Tote.«
Er legte die Todesnachricht auf meinen Schreibtisch.
Tief erschüttert geben wir Nachricht, dass OStR Hubert Osterloh (* 1945) nach kurzer, schwerer Krankheit heim zum Herrn gerufen wurde.
Wir verabschieden uns von unserem lieben Hubert und so weiter.
»OStR bedeutet Oberstudienrat?«
Nicken.
»Ein Freund der Familie«, sagte er. »Zungenkrebs.«
Ich öffnete ein leeres Dokument und füllte die Stammdaten aus.
»Geboren?«
»Zürich.«
»Gestorben?«
»Wien.«
»Was halten Sie von einem Spruch? Oder einem kurzen Gedicht? Sieht dann nicht so nackt aus.« Ich drehte den Bildschirm in seine Richtung.
Er zuckte mit den Schultern.
Ich löste einen Zettel von der Pinnwand und las vor: »›Ich höre auf zu leben, aber ich habe gelebt‹ – Goethe. Oder Thomas Mann: ›In jedem Ende liegt ein neuer Anfang. Die Bande der Liebe werden mit dem Tod nicht durchschnitten‹. Von Augustinus ist: ›Unruhig ist unser Herz bis es Ruhe findet in Dir, O Gott.‹«
»Das passt nicht«, sagte er.
»Möchten Sie ein Foto hinzufügen? Macht dreißig Euro Aufschlag.«
Er sah mich an. Dann öffnete er seine Brieftasche und entnahm ihr eine Visitenkarte, die er mir über den Tisch zuschob.
Ich las Raoul und dachte: Wie schön, ein Franzose.
»Von Ihnen«, sagte er und sah mich an. »Von Ihnen hätte ich gern ein Foto.«
Ich lebte damals mit Johannes in einer fortschrittlichen Wohngemeinschaft. Jeder hatte sein eigenes Zimmer. Jeden Mittwoch trafen wir uns um zwanzig Uhr im Wohnzimmer, um das zu tun, was man »Casual Sex« nennt. Als Paarungsvorbereitung breitete Johannes auf dem Alcantara-Sofa eine Decke aus, die mich an eine Baby-Kuscheldecke erinnerte. Ich erwartete jedes Mal, eine Rassel oder Babypuder darauf vorzufinden und nicht ein rotglänzendes eingeschweißtes Kondom.
Wir teilten uns den Platz auf dem Babydeckchen wie zwei zu groß geratene Krabbelkinder, die das Spiel der Erwachsenen nachahmten. Ich hoffte, dass er seine Zurückhaltung ablegen würde, wenn wir uns erst besser kannten, doch je besser wir uns kennenlernten, umso unbeholfener wurde er. Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass es ihm an Körperspannung fehlte. Wenn wir uns umarmten, fühlte es sich an, als hielte ich eine riesige gekochte Kartoffel im Arm, die jeden Augenblick auseinanderfallen konnte.
Wenn ich keine Gedichte für Todesanzeigen recherchierte, versuchte ich, mich in Johannes zu verlieben. Er war zweifellos der korrekteste Mann, den der Markt zu bieten hatte. Er rechnete seinen Nebenkostenanteil auf zwei Stellen nach dem Komma aus. Er berührte meine Brüste immer so, als würde er sie siezen. Er forderte niemals, dass wir gemeinsam in einem Bett schlafen sollten. Er, der einer angesehenen Anwaltsfamilie entstammte und die Tradition hochhielt, ließ mich bereitwillig in sein Leben eintreten.
Als ich Raoul traf, lief das Babydecken-Ritual aus wie eine Fernsehserie mit miesen Quoten. Die Frequenz sank auf zweimal im Monat, schließlich auf einmal im Monat. Als sich das Ende abzeichnete, achtete ich darauf, mittwochs um zwanzig Uhr außer Haus zu sein. Johannes spürte, dass ich ihm entglitt, und vervielfachte seine Bemühungen: Er bot mir Massagen an, Extra-Putzdienste, und schlug vor, die Wände zu streichen. Apricot. Ich ließ ihn arbeiten, ohne ihn an mich heranzulassen. Ich hatte mich in meiner Mittelmäßigkeit eingerichtet: Zum Leben reichte es, doch zu Hause fühlte ich mich nicht. Ich sehnte mich nach großen Gefühlen. Nach etwas, das mich packen und zu Boden schleudern würde.
Raoul stand am nächsten Tag wieder im Todesanzeigen-Kabuff. Er friemelte ein zerknautschtes Post-it aus seiner Hosentasche.
»Was sagen Sie dazu: ›Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr
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