Südbalkon
schläft, er hat das Laken beinahe ganz über den Kopf gezogen und schnarcht. Der andere sitzt aufrecht in seinem Bett,zwei Kissen im Rücken, und grinst mich an. Seine Haut ist gelb, ein schwarzer Haarkranz klebt an seinem Eierschädel.
»Na, Fräulein? Sie können sich gerne zu mir setzen.« Er klopft auf seine Matratze. »Hier ist noch Platz.«
Ich laufe an den Betten vorbei, hinaus auf den Gang. Wo haben sich die Ärzte versteckt? Der Gang ist wie leergefegt. Die Notbeleuchtung glimmt. Eine Putzfrau wischt das Treppenhaus. Die Richtungsstreifen am Boden glänzen. Der rote führt in die Ambulanz. Der schwarze in die Aufnahme. Der gelbe zur Diagnosestraße.
Ich folge dem schwarzen Pfeil und gelange zu einem Schalter mit Glasfenster. Alles fest verschlossen. Versuchshalber klopfe ich an das Glas. Keine Reaktion. Was macht man bloß, wenn man in der Nacht krank wird?
Im Halbdunkel entziffere ich die Aufschrift auf einer Tür. Schwesternzimmer . Ich schöpfe Hoffnung und drücke vorsichtig die Klinke herunter. Mehrstimmiges Lachen schlägt mir entgegen. Rauchwolken wabern durch den Raum. Um einen Ecktisch sitzt ein Dutzend Schwestern und trinkt Sekt aus langstieligen Gläsern. Als sie mich sehen, frieren ihre Bewegungen ein. Eine Schwester ist gerade dabei, eine hohe Torte mit einer Art Skalpell anzuschneiden. Sie sieht mich feindselig an. Totenstille.
»Entschuldigung«, sage ich leise.
»Ja?« Eine dralle Schwester mit kurzen blonden Haaren wendet sich mir zu.
»Einen Arzt, ich suche einen Arzt«, sage ich.
Sie zieht an ihrer Zigarette. »Hier bei uns?«
Kichern.
»Es geht um meinen Freund. Er liegt auf Zimmer –«
»Morgen früh«, sagt die Dralle. »Heute werden sie keinen mehr finden.«
Ich schließe beschämt die Tür. Ein Krankenhaus hatte ich mir anders vorgestellt.
Im Zimmer 415 läuft der Fernseher. Auf Zehenspitzen trete ich an Raouls Bett. Er hat sich zur Fensterseite gedreht. Ich berühre ihn an der Schulter.
»Raoul?«, flüstere ich.
»Schläft tief und fest«, sagt der Mann in Gelb. »Aber Sie können sich gerne mit mir unterhalten.«
Ich beachte ihn nicht. Der andere Patient ist zwischenzeitlich aufgewacht und hat neben seinem Bett Aufstellung genommen. Er drückt auf einer Fernbedienung herum, die er in Richtung des Bildschirms hält. Zwischen dem spindeldürren Oberkörper und den Zahnstocherbeinen ist ihm ein enormer Bauch gewachsen, kugelrund wie eine längst überfällige Schwangerschaft.
»Sie halten uns hier fest«, deklamiert er mit der Stimme eines Oberleutnants, seine Gesten sind ebenso hart und abgehackt wie seine Worte. »Haben Sie das gewusst?« Er sieht mich an. »Sie knebeln uns in den Betten, um uns fernzuhalten von der Gesellschaft.«
»Verschone uns mit deinen Verschwörungstheorien«, sagt der andere. »Bin ich geknebelt? Bist du geknebelt, hä?«
Der schwangere Alte zielt mit der Fernbedienung auf mich. »Hören Sie nicht auf Hugo, Fräulein«, sagt er. »Glaubt, er ist auf Erholungsurlaub hier. Läutet mitten in der Nacht nach der Schwester, nur um ihr in den Ausschnitt zu glotzen. Hortet den Nachtisch im Nachttisch, jawohl! Um Schwester Adelheid zu bezirzen. Na, Schwester Adelheid? Darf ich Ihnen meinenWackelpudding antragen? Seine Leberwerte sind unterirdisch, schauen Sie ihn nur einmal an.«
»Ach, hol dich doch der Teufel«, sagt Hugo und blättert in einer bunten Tageszeitung. »Und Fernseher leise drehen, sonst wecken wir noch unseren neuen Freund auf.« Hugo zeigt auf Raouls Bett.
Es bereitet mir Bauchschmerzen, Raoul hier inmitten des Wahnsinns liegen zu sehen. Ich beschließe, mir die Hände zu waschen, eine simple, aber effektive Methode, ein Zuviel an Verzweiflung loszuwerden.
Das Bad, das vom Flur des Krankenzimmers abgeht, ist nur halb so groß wie das unsrige in der Przewalskistraße und bis an die Decke verfliest. Eine Vorsichtsmaßnahme, wie ich annehme. Falls Blut spritzen sollte oder andere Körperflüssigkeiten. Innen an der Tür hängen Altherren-Frottee-Bademäntel. Ich kann Raouls elektrische Zahnbürste nicht entdecken, offenbar ist er nicht einmal dazu gekommen, eine Tasche zu packen. Vielleicht war’s doch ein Notfall, womöglich etwas mit dem Herzen. Ich schrubbe meine Hände dreimal mit desinfizierender Seife und lasse siedend heißes Wasser darüber laufen, bis die Haut rot und wund ist, dann klappe ich den Toilettendeckel herunter, um ein paar Augenblicke zu rasten.
Wie kann ein Tag, der so gut begonnen hat, so schlecht enden?
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