Südbalkon
Schwester Agathe mit dem Pudding anrückt. Er will bestimmt mein Bedauern hören, aber ich spüre kein Bedauern, vielleicht sitzt Maja in diesem Moment an seinem Bett, vielleicht sitzt sie sogar auf seinem Bett, vielleicht hat er für sie die Bettdecke zurückgeschlagen, damit sie es bequemer hat, vielleicht berührt sie unter der Decke seinen Schenkel, oder er berührt ihren.
»Und deine Haut«, sage ich, »was ist damit?«
»Erzähl ich dir später«, sagt er. Seine Stimme klingt fern, so als trennten uns Tausende Kilometer.
»Hallo, hallo?«, macht er. »Scheiß Verbindung.«
»Hattest du gestern noch Besuch«, frage ich.
Stille.
»Du warst da.«
»Und sonst?«
»Sonst?« Er zögert. »Maja hat vorbeigeschaut.«
»Tatsächlich«, sage ich. »Das ist aber freundlich von ihr.«
»Terminverschiebung«, sagt Raoul. »Die gestrige Beratung ist ja entfallen.«
»Entfallen«, sage ich.
»Ist da irgendwo ein Echo?«
Stille.
»Wann wirst du entlassen?«
»Sie machen noch ein paar Untersuchungen«, sagt er.
Ich sage, dass ich später noch mal vorbeikommen werde, um mit einem Arzt zu sprechen. Ich möchte fragen, ob auch Maja einen Besuch angekündigt hat, mein hämmerndes Herz nimmt die Aufregung vorweg, aber Raoul bricht das Gespräch ab.
»Ich muss jetzt aufhören, ich bin noch müde.« Er gähnt.
Meine Müdigkeit hingegen ist verflogen. Ich beschließe, mich für den nächsten Besuch im Krankenhaus besonders schön zu machen, und schminke mich, wie ich es sonst nie tue, dunkelblauer Lidschatten bis zu den Augenbrauen, Make-up, sogar ein Rouge finde ich im Bauch der Kosmetik-Lade, eine Wimpertusche, einen Kajal und einen Lippenkonturenstift, und als ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich nicht Ruth Amsel, sonderndas siebte Flittchen. Ich freue mich bereits auf Raouls erstaunten Blick, auf seine Vorfreude, die ihn heilen wird, zuverlässiger als jede ärztliche Kunst.
Ich ziehe meinen einzigen langen Rock an, ein Batik-Rock mit Pailletten, bunt und schillernd. Im Geiste spreche ich mit Raouls Mutter. Gertraud, sage ich, ich bin deinem Sohn eine gute Frau, ich lasse ihn nicht im Stich, so wie du ihn im Stich gelassen hast, sondern füttere unsere Beziehung mit Überraschungen, Aufmerksamkeit und Trost. Ich stelle mir vor, dass Gertraud uns ihren Segen gibt, sie steht an der Start-Ziellinie auf der Aschenbahn und winkt uns mit ihrem sehnigen Arm zu. Wir werden es schaffen, Gertraud, ich werde Raouls Familie sein und ihn an meiner Brust nähren, keine andere wird dazwischenfunken, auch Maja nicht, denn Raoul weiß insgeheim, dass ich ihm guttue, besser als jede andere Frau auf dieser Welt.
Ich drehe mich um meine eigene Achse, der Rock fliegt, und plötzlich ist die Wohnung erfüllt von meiner Bewegung, und alles scheint sich mitzubewegen, die Vorhänge zittern in der Morgensonne, die Luft flimmert, und der Staub tanzt graziös in den schmalen Lichtsäulen. Es fühlt sich kribbelig an und unerhört lebendig, wie beim allerersten siebten Flittchen.
Ein Blick hinüber auf das Schütte-Lihotzky-Hochhaus offenbart, dass die Wesselys bereits wach sind. Aus dem offenen Fenster dringt das beleidigte Plärren des Kindes, und dann sehe ich Judith im Morgenmantel, die sich aus dem Fenster beugt und gierig an einer Zigarette saugt. Sie wirkt hohlwangig und ausgezehrt, und obwohl ich schon so lange nicht mehr mit ihr gesprochen habe, schmerzt es mich, sie so zu sehen. Phil ruftihr etwas zu, sie zuckt mit den Schultern und raucht weiter, dann sehe ich eine Hand auf ihrer Schulter, er zieht sie vom Fenster weg, sie schreit etwas, ich kann es nicht verstehen. Du hast die Macht, diesen Streit zu beenden, denk ich. Los, ruf an. Ich wähle Judiths Nummer und bleibe am Fenster stehen.
Es läutet zwei Mal. Ich bin nervös, seit Moritz auf der Welt ist, haben wir kaum mehr als ein paar Worte gewechselt. Dass sie ein Kind bekommen hat, und ich nicht, fällt mir immer noch schwer zu akzeptieren.
»Ruth«, sagt Judith. Sie ist atemlos.
»Judith«, sage ich.
Ich höre das Weinen des Kindes durch den Hörer.
»Warte«, sagt sie, »ich gehe ins Bad, dort kann ich reden.«
»Wollt ihr uns nicht besuchen«, sage ich schnell, »natürlich mit Moritz.« Ein spontaner Vorschlag, den ich mir vorher nicht überlegt hatte, der mir jetzt aber ganz natürlich erscheint.
»Mit Moritz?« Es klingt, als ob sie es kaum glauben könne.
»Natürlich mit dem Kleinen«, sage ich.
»Wie schön«, sagt sie.
»Und sonst«, sage ich, »alles
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