Südbalkon
Rauswurf eine neue Zeitrechnung einläutete.
Ich nahm Raouls Visitenkarte zur Hand und rief an. Er hatte seit einer Woche nichts von sich hören lassen. Hubert Osterloh war längst unter der Erde. Das Telefon zitterte in meiner Hand. Raoul schien nicht sonderlich überrascht, und ich ärgerte mich über seine Selbstherrlichkeit.
»Das Fräulein von der Morgenpost «, sagte er. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Vom Anzeiger «, korrigierte ich ihn und verlor augenblicklich die Lust weiterzusprechen.
Wir schwiegen.
Ich hörte, wie im Hintergrund etwas zu Boden fiel und zerbrach.
»Moment«, sagte er, dann klackte es.
Kurz darauf meldete er sich wieder. »Hast du morgen Nachmittag Zeit? Ich bin hier um fünf fertig.«
Er duzte mich wie selbstverständlich. Ich war versucht, ihn zu fragen, weshalb er mich wiedersehen wollte und warum erso sicher war, dass ich das auch wollte, aber anstatt zu fragen, sagte ich nur: »Gut.« Und dann nichts mehr. Meine Zunge klebte am Gaumen. Ich malte Kringel auf ein Blatt Papier.
»Na dann.«
»Na dann«, wiederholte ich.
Ich hätte mich ohrfeigen können.
Er legte auf.
Ich hielt den Hörer noch eine Zeitlang in der Hand.
So, genau so hatte es angefangen, Schwester.
Ich bemühe mich, den Kopf gerade zu halten. Nur kein Makeup auf dem Bettzeug verschmieren. Der neue Herr Hugo zählt indessen der Krankenschwester die endlose Liste seiner Medikamente auf. Da gäbe es auch so gelbe Kapseln, sagt er, die müsse er zweimal täglich schlucken, in der Früh und am Abend, jeweils nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit, nur Milch dürfe es nicht sein, Milch sei verboten in Kombination mit den Tabletten, auch H-Milch und Kondensmilch. Die Krankenschwester fragt nach dem Namen der Tabletten, aber er kann sich nicht daran erinnern, auch nicht daran, wofür sie eigentlich gut seien oder wogegen, das wisse er nicht mehr. Er wisse nur, dass ihm einmal ganz übel davon geworden sei, dabei habe er gar keine Milch zu sich genommen.
»Keine Milch!«, wiederholt er, wütend, so als sei die Krankenschwester schuld an seiner Übelkeit, als hielte sie Anteile am Pharmakonzern, der die Tabletten herstellt. »Und sonst, was nehmen Sie sonst«, fragt die Schwester, und der neue Hugo sagt: »Keine Milch« und sie sagt: »Sonst, was nehmen sie sonst?« »Keine Milch«, erwidert er. Sie reden aneinander vorbei wie ein altes Ehepaar, das keine gemeinsame Sprache mehr hat.
Plötzlich steht ein Mann mit einem schwarzen Aktenkoffer im Raum, jetzt ist es so weit, endlich: ein Arzt. Ich setze mich auf und rufe »Herr Doktor!« und strecke den Arm in die Höhe, um auf mich aufmerksam zu machen.
Er steuert umgehend auf mein Bett zu, und erst, als er vor mir steht, fällt mir sein Hemd auf, ein seltsames Hemd, das er unter seinem weißen Kittel trägt, ein schwarzes Hemd mit einem leuchtend weißen Streifen unter dem Kehlkopf. Schon hält er mir seine Hand hin und sagt: »Ich bin Pater Gerfried, der Krankenhausseelsorger.«
Ich will sagen: Ich habe mich getäuscht, ich bin nicht krank, und auch mit meiner Seele ist alles in Ordnung. Sehen Sie mich an, ich trage einen Paillettenrock und kein Krankenhausnachthemd, ich trage Strapse statt Kompressionsstrümpfe, er aber hat bereits den Besucherstuhl zum Bett geschoben und sieht mich aufmerksam an. Lange dunkle Wimpern, auffällig dichte Wimpern für einen Mann, eine edle griechische Nase, und aus seinem Mund kommen nur freundliche Worte.
»Es freut mich, dass Sie mich gerufen haben. Ich biete Ihnen jederzeit ein Gespräch an«, sagt er leichthin.
»Worüber möchten Sie denn sprechen«, frage ich.
»Ich dachte eher daran, dass Sie mir was erzählen, ich höre gerne zu«, sagt er, und ich entgegne: »Ich höre auch gerne zu«, obwohl das nicht stimmt, kaum etwas fällt mir so schwer wie Zuhören.
Pater Gerfried räuspert sich, dann sagt er in der Manier des professionellen Menschenverstehers: »Eine Krankheit ist eine Beleidigung, nicht wahr? Sie katapultiert einen aus dem Alltag heraus. Eine Krankheit kränkt. Das Leben kränkt einen, und man weiß nicht, wie man dazu kommt – ist es nicht so?«
»Dazu kann ich nichts sagen, ich bin nicht krank«, sage ich.
»Natürlich, Ihnen geht es wie allen Kranken«, sagt er. »Wir wehren uns gegen die Krankheit, weil wir sie als unangemessene Prüfung betrachten. Aber seien Sie sich bewusst, dass sie nicht mehr tragen müssen, als Sie tragen können.«
Ich kapituliere. Vielleicht hat er recht. Vielleicht bin ich
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