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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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an ihn denkt.‹«
    Bert Brecht. Ich hatte den Spruch schon tausendmal gehört und bestimmt ein paar hundert Mal niedergeschrieben.
    »Sehr schön. Aber vielleicht finden wir noch etwas anderes«, schlug ich vor. »Etwas, das Ihrem Freund besser entspricht. Etwas Individuelles.«
    Er erzählte, dass es Huberts größter Wunsch gewesen war, einmal das CERN in Genf zu besuchen. Wegen des Teilchenbeschleunigers. Die letzten zehn Jahre seines Lebens habe er mit dem Studium der Urknall-Theorien und der Ausbreitung des Universums verbracht.
    »Kennen Sie einen Spruch, in dem Teilchenbeschleuniger vorkommen? Oder der Urknall?«
    Raoul faltete die Hände und legte die Fingerspitzen an die Lippen. Ich dachte, er mache sich über mich lustig. Andererseits wusste ich, dass man mit Angehörigen sorgsam umgehen muss, dass der Tod den Grenzstein zwischen Vernunft und Irrsinn verrückt.
    »Wie war er als Mensch?«, fragte ich.
    Raoul schien nachzudenken.
    »Warmherzig«, sagte er dann, lehnte sich plötzlich vor und berührte meine Hand mit seiner Hand. So rasch, dass ich nicht einmal die Zeit hatte, überrascht zu sein. Wir saßen einander gegenüber, zwischen uns der Schreibtisch mit der braunen Tischplatte, einem Packen Todesanzeigen und dem Kalender, der immer noch die KW 9 anzeigte.
    »Sie hätten ihn gemocht«, sagte er.
    Am nächsten Morgen war Raoul vor mir da. Er wartete vor der verschlossenen Tür. Ich sah ihn schon von weitem. Irgendwas in mir drin machte einen Sprung.
    »Ich hab’s«, sagte er. »Hören Sie zu: ›Der Tod ist wie eine Kerze, die erlischt, wenn der Tag anbricht.‹ Das ist zwar ohne Teilchenbeschleuniger, aber Hubert mochte Kerzen.«
    Er setzte sich wie selbstverständlich auf den Angehörigen-Stuhl, während ich den Computer hochfuhr. Ob man ihn an seiner Arbeitsstätte nicht vermisse, fragte ich ihn. Ob der arme Herr Osterloh keine anderen Bekannten gehabt hätte.
    »Klingt, als ob Sie mich nicht mehr sehen wollen. Ist das so?« Er lehnte sich zurück und grinste.
    Ich spürte, wie ich rot wurde, zuerst nur an den Wangen, dann an den Schläfen und schließlich an Hals und Dekolleté. Fliegende Hitze.
    Ich beschloss, Johannes die Wohngemeinschaft aufzukündigen. Ich wollte weder meine Wohnung noch mein Leben mit jemandem teilen, der keinerlei Geheimnis vor mir hatte, vor dem ich im Gegenzug jedoch alles verbarg.
    Es sollte der letzte gemeinsame Mittwochabend werden. Ich zog das dunkelblaue Kostüm mit den goldenen Knöpfen an, das ich am Vortag gekauft hatte, um Raoul zu beeindrucken. Maja sagte, ich sehe darin aus wie eine Stewardess, die es nicht in die Luft geschafft hat.
    Johannes hatte einen Sekt geöffnet und Gulasch gekocht. Ich saß stocksteif auf dem Hocker in unserer Wohnküche und wünschte, der Abend wäre bereits vorbei, damit ich das Kostüm ausziehen und in einen tiefen Schlaf fallen konnte. Johannes hoffte, mich zu verführen, das war sofort klar: Als ich durch die geöffnete Tür ins Wohnzimmer lugte, erkannte ich, dass er die Babydecke bereitgelegt hatte. Sie lag zusammengefaltet auf dem Couchtisch, Kante auf Kante.
    Du glaubst, immer im Recht zu sein, hatte mir Johannes vorgehalten, als er an einem viel zu heißen Frühlingstag noch einmal in die Wohnung zurückkehrte, um seine Sachen zu packen. Ich weiß noch, dass ich alle Fenster geöffnet und es nur so gezwitschert hatte. Ich sagte, wieso, wie er darauf komme, mit Rechthaben habe das absolut nichts zu tun, eher mit der Suche nach einem rechten Leben, er aber beharrte darauf: Du willst immer recht behalten. Er klimperte in seinem Zimmer mit den Kleiderbügeln, ein nervöses Geräusch, das in den Ohren schmerzte.
    Unsere Babydecke lag noch auf dem Seitenarm der Wohnzimmercouch. Hin und wieder hatte ich sie zweckentfremdet, um damit meine Füße zu wärmen. Ich brachte ihm die Deckeund sagte: »Nimm sie mit. Du wirst sie brauchen.« Als er sie entgegennahm, fing er an zu weinen. Da verstand ich, dass er in mich verliebt war, und wollte ihn trösten. Ich strich mit meiner Hand über seine Wange, sie war ganz nass. Er schluchzte, den Kopf gesenkt, in der Hand hielt er immer noch das Deckchen, ganz verkrampft, seine Fingerknöchel waren weiß vor Anstrengung.
    Johannes war der erste Mann, den ich verlassen hatte. Zuvor war immer ich die Verlassene, die nicht verstehen konnte, weshalb sich die anfängliche Begeisterung der Männer schneller verflüchtigte als die Kopfnote von Chanel Nº 5. Ich war davon überzeugt, dass Johannes’

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