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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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undefinierbar.
    Äußere Merkmale: 1x Venenkatheder, 1x Stent im Schulterbereich, 1x Verband im Halsbereich.
    Gehhilfen: 1x Rollator, 1x Arm einer Krankenschwester.
    Junger Mann und junge Frau streiten. Sie gestikuliert stehend, er sitzt unbeweglich auf Parkbank. Sie sehen sich keine einziges Mal an. Frau beginnt zu weinen. Zuerst wütend, dann verzweifelt. Mann steht auf, geht an ihr vorbei ohne ein Wort, zurück ins Gebäude. Frau setzt sich auf die Bank, schlägt Hände vors Gesicht, schluchzt.
    Wie im Theater, nur ohne Ton. Eine Umwertung der Verhältnisse. Indem der junge Mann im Pyjama mit erhobenem Kopf an seiner Freundin vorbeiging, kehrt er die Rollen um: Sie bricht zusammen und wird zur Patientin, er hingegen wird zum zufälligen Besucher, der von der Aufregung der jungen Frau nicht betroffen ist.
    Die Szene rührte mich, und ich glaube, dass dies der Moment war, als jene Nabelschnur wuchs, die mich seither mit dem Krankenhausgarten verbindet. Die weinende Frau sah aus, wie ich immer gerne ausgesehen hätte: dunkleLocken, eine makellose Figur, schick bis in die Fingerspitzen. Dass sich daraus nicht automatisch das Glück speist, tröstete mich.
    Als ich aufstehen will, um meinen Spaziergang fortzusetzen, schlurft tatsächlich die Frau mit der Turmfrisur heran. Sie trägt ihren pinkfarbenen Morgenmantel und nimmt ächzend am anderen Ende der Bank Platz. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass sie deutlich jünger ist, als ich vermutet hatte. Sie wird in meinem Alter sein, vielleicht sogar noch jünger, doch da ist etwas an ihrer Erscheinung, das sie alt macht. Ich hätte Lust, sie offen anzustarren, um dem Geheimnis ihrer frühen Vergreisung auf die Spur zu kommen. Stumm sitzen wir nebeneinander, und ich kann ihren Krankenhausgeruch wahrnehmen, eine Mischung aus frischer Wunde und aufgewärmtem Kohl. Wir sitzen so weit voneinander entfernt, dass eine Krankenschwester in der Lücke zwischen uns Platz hätte. Ich fühle mich bemüßigt, etwas zu sagen.
    »Schöner Park.«
    Die Frau sieht mich entgeistert an. »Da waren Sie noch nicht im Agathen-Krankenhaus!« Ihre Stimme ist erschreckend hoch und quäkend. Eine Daisy-Duck-Stimme.
    »Nein«, sage ich.
    Sie breitet ihre Arme aus. »Dort ist der Park fünfmal so groß. Mindestens. Überall Blumen und Obstbäume. Und einen richtigen See gibt es auch. Nicht so einen mickrigen Teich wie hier.«
    »Weshalb sind Sie dann nicht dort?«
    Sie tippt sich an den Kopf. »Die Neurochirurgie hier ist mir lieber. Toller Primarius.«
    Sie kramt in ihrem Morgenmantel und hält mir einen Zettel entgegen.
    »Na los, lesen Sie!«
    »Ich?«
    »Sehen Sie noch jemanden hier?«
    Wir berichten Ihnen über
    Frau Gerlinde Kammerlander, geb. am 23.05.1980 in Wien
    Diagnosen:
    De-novo-Aneurysma (Grad 0) in der distalen Gabelung des nach dorsal gerichteten Mediahauptastes rechts (4 mm)
    Reperfusion eines Pica-Aneurysmas proximal des Clipps (6 mm)
    SAB mit Pica- und Mediaaneurysma, Coiling-Pica- und Mediaaneurysma 09/2004
    Ich lege das Blatt auf die leere Stelle zwischen uns.
    »Hirnblutung«, sagt die Frau. »Drei Wochen Intensivstation.«
    Jetzt verstehe ich: Ihr Haarturm ist eine Perücke, die den kahlen Schädel und die Operationswunde verdeckt.
    »Alles wird gut«, sagt sie. Als wolle sie diese Behauptung unterstreichen, holt sie im selben Atemzug ihre Zigaretten aus der Bademanteltasche.
    Sie hält mir die Packung entgegen.
    »Ich habe aufgehört«, sage ich.
    »Sie können ja wieder anfangen«, sagt die Frau und zündet sich eine Zigarette an. »Solange man nicht unter der Erde liegt, kann man jederzeit neu anfangen. Ich habe zum Beispiel mit einer neuen Marke angefangen. Bin umgestiegen von filterlosen Gauloises auf Parisiennes mit Filter. Hauptsache, ich bleibe in Frankreich.« Sie quietscht vor Lachen.
    »Ich liebe die Franzosen. L’amour, oui, oui. Obwohl ich damit nicht viel Glück habe. Sie?«
    »Och«, sage ich.
    »Wissen Sie«, sagt die Frau, »ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich halte es nicht aus, wenn zwei glücklich sind. So richtig glücklich. Wenn sie nur sich sehen und sonst nichts. Widerlich ist das. Möchte ich nicht sehen. Sie?«
    Sie wartet nicht auf meine Antwort. »Also mich widert das an. Liebe ist Schwäche. Hirnschwäche, Körperschwäche. Ich brauche niemanden, um zurechtzukommen. Denken Sie, ich bekomme Besuch hier im Krankenhaus? Kein einziges Mal. Blumen, Zeitungen, Postkarten? Nichts. Ich bin die Einzige, die auf der Intensivstation nicht besucht

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