Südbalkon
wurde.« Sie lehnt sich zurück, zufriedener Gesichtsausdruck. »Darauf bin ich stolz.«
»Aha«, sage ich.
»Aber nicht einmal hier ist man sicher vor den Frischverliebten. Ist wie eine Seuche. Gestern will ich im Park in Ruhe meine Abendzigarette rauchen, spaziert doch ein Paar andauernd vor mir herum. Er, die Hand auf ihrem Allerwertesten, sie, die ihre Hand in seinen Morgenmantel schiebt. Widerlich. Und geküsst haben die sich. Mit Zunge. Das konnten wir alle sehen. Der Biedermann kann’s bezeugen. Und auch die alte Fröhlich war dabei. Mit Zunge. Ich brauche das nicht, und ich bin stolz darauf.«
Jetzt weiß ich es: Bestimmt ist es ihr Stolz, der sie so alt aussehen lässt. Falscher Stolz macht alt, weil er den Graben zwischen Selbstbild und Fremdbild vertieft. Der Startschuss für das Begräbnis. Irgendwann wird sich niemand mehr mit ihr unterhalten wollen. Auch darauf wird sie stolz sein.
Ihrem bösen Bericht höre ich nur mit halbem Ohr zu.
»… und einen Bademantel hatte der an … gestreift wie ein Papagei … laut gelacht … nur für … sicherlich, aber doch nicht … Gockel, der …«
Wie war das?
Ich unterbreche sie. »Was haben Sie gesagt? Wie hat der Morgenmantel ausgesehen?«
Sie zieht genüsslich an der Zigarette. »Wie von einem Warmen. Einem Homo, Sie wissen schon. Ganz bunt, alle Farben, auch rosa und lila. Und dazwischen goldene Streifen. Gold! Wenn er die Frau nicht geküsst hätte! Ja, dann.«
»Wer hatte diesen Bademantel an? Der Mann, der die Frau« – ich bringe es kaum über die Lippen – »geküsst hat?«
»Sag ich doch. So ein Gockel, dunkles Haar, schmales Gesicht, große Nase, also, mein Typ war er nicht.«
Ich frage sie, wer die Frau war, wie sie ausgesehen hatte, ob sie einen Bob trug, einen dunklen Bob.
Sie sieht mich erstaunt an und streift in Zeitlupe die Asche ihrer Zigarette ab. »Kennen Sie diesen Mann denn?« Sie rückt ein wenig ab.
»Nein«, sagt sie dann, »Bob hatte die keinen, sicher nicht. Sondern lange Haare, gewellte lange Haare, nicht unhübsch, eine hübsche Person«.
Ich weiß nicht wohin mit meiner Verzweiflung und stehe auf. Am liebsten würde ich diese Frau packen und ihr die Geheimnisse aus dem Leib schütteln. Wie klang die Stimme dieser Frau? Haben sie sich Schweinereien zugeflüstert? Haben sie gemeinsam gelacht? Hat er sie mit einem Kosenamen angesprochen?
Ich haste quer über den Rasen.
»Warten Sie!«, ruft mir die Frau nach. »Sie haben den zweiten Arztbrief nicht gelesen!«
16
Der Raum D1010 liegt hinter dem Gang der Langzeitarbeitslosen. Ein stickiger Raum mit niedrigen Decken und abblätternder Rosentapete. Wir stehen im Kreis und halten uns an den Händen wie Kindergartenkinder. Neben mir Maggie, ihre kleine Hand ist klebrig, nur mit Mühe kann ich meinen Ekel unterdrücken. An meiner rechten Hand hängt Olaf, der eine massive Essstörung überwunden zu haben scheint. Er ist dünn und langgliedrig wie ein Weberknecht. Sobald der Trainer sich abwendet, beißt er in ein gigantisches Salami-Baguette, das er in seinem Rucksack versteckt. Der Kurs nennt sich »Existenzgründer I«, und in der Tat sieht kaum einer in der Runde aus, als hätte er zuvor eine Existenz geführt, über die zu sprechen es sich lohnen würde.
Drei Schritte in die Mitte, alle Hände hoch und ein lautes: »Wir schaffen es!« Ich schreie nicht mit, ich bewege nur die Lippen, die anderen sind meine Synchronsprecher. Das gefällt mir. Ich möchte ein Synchron-Leben beantragen, das muss doch möglich sein. Ich darf nicht vergessen, Herrn Othmar nach dem Formular zu fragen. Jetzt, wo ich nichts mehr zu verlieren habe, kümmert mich nicht, was er von mir hält. Ich fühle mich abgetrennt von allem. Nicht der kleinste Faden, der mich mit den anderen im Raum verbindet.
In der Mitte des Kreises hat eine massige Endvierzigerin mit Hornbrille und Palästinensertuch Aufstellung genommen. Der Typ Frau, der sich immer freiwillig meldet. Der Trainer, sichtlichgelangweilt, fordert sie auf, ihre Geschäftsidee in einem Satz zu formulieren.
»Ich will –«, sagt die Frau.
»Nicht: Ich will. Ich werde«, unterbricht sie der Trainer. »Mit unseren Worten schaffen wir Wirklichkeit. Etwas zu wollen, ist nicht schwierig. Etwas zu tun, darum geht es hier. Das ist die Herausforderung.«
»Ich werde –«
»Ja?« Der Trainer krault seinen Fünftagebart.
»Ich werde anderen dabei helfen, erfolgreich zu sein.«
Die Frau nestelt an ihrem Tuch. Ihre Hose ist sehr eng. Alles an ihr
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