Südbalkon
Brillengläsern blitzt so etwas wie Mitgefühl auf, und er sagt – so leise, dass es die anderen nicht hören können: »Möchten Sie nach Hause gehen, Frau Amsel?«, und obwohl ich mich davor fürchte, in die leere Wohnung zurückzukehren, fürchte ich mich doch noch mehr davor, hierzubleiben. Ich frage den Trainer nach einer Seminarbesuchsbestätigung, für die Buchhaltung, für Herrn Othmar, in Hinblick auf meine künftige Existenz.
»Geht es Ihnen gut?«, fragt der Trainer noch einmal und hält mich am Ellenbogen fest. Ein Berührungsfanatiker. Ich weiß nicht, wo man so etwas lernt und wozu das gut sein soll.
»Ist nur ein wenig viel im Moment«, sage ich. »Mein Leben, wissen Sie.«
»Ja«, sagt er und nickt, »ich weiß.«
Olaf, der Weberknecht, trennt sich von seinem Baguette und krabbelt in die leere Mitte des Kreises. Er entfaltet umständlich einen Zettel, den er in der Hosentasche aufbewahrte. Ich warte, bis er salbungsvoll die ersten Worte spricht – »Für dieses Seminar habe ich mich lange vorbereitet« –, um auf Zehenspitzen den Raum D1010 zu verlassen. Ich laufe den Langzeitarbeitslosenflur entlang und durch das Wartezimmer, am Portier vorbei und hinaus auf die Straße, und halte die Seminarbestätigung mit beiden Händen fest wie ein Geschenk, das ich nicht verdiene und das man mir jederzeit wieder wegnehmen kann.
17
Über die Fassade des Hauses in der Wotangasse ziehen sich dunkle Flecken, ein Ausschlag, der bis in die oberste Etage metastasiert. Die Flecken sind mir bei meinem ersten Besuch nicht aufgefallen, heute aber schrecke ich vor ihnen zurück, nur mit großer Überwindung läute ich bei Kallinger.
Simone betätigt den Türöffner, ohne nach dem Namen zu fragen. Das erscheint mir nachlässig, unvorsichtig geradezu, doch es steht mir nicht zu, ihr Ratschläge zu erteilen. Ich schleppe mich in den zweiten Stock und halte mich am Geländer fest, wie wenig Kraft habe ich doch in meinen Armen.
Eine Stimme in mir sagt: Mach dich nicht lächerlich, wer weiß, wer sie war, die Brünette an Raouls Seite, vielleicht eine Schulfreundin oder eine Studienfreundin, wenn man sich nach langer Zeit wiedersieht, dann küsst man sich eben. Bestimmt gibt es eine gute Erklärung, und wenn nicht, gibt es immerhin noch eine schlechte, jede Erklärung ist gut genug. Durchaus möglich, dass die Frau mit der Turmfrisur in Rätseln sprach, in Zungen, benebelt von Medikamenten, und Dinge gesehen hatte, die nicht da waren.
Simone lehnt bereits im Türrahmen, Jogginghose, ausgewaschenes Shirt, ungeschminkt, die blonden Haare verstrubbelt.
»Du kommst zur richtigen Zeit«, sagt sie und geht vor in die Küche. »Ich habe Kaffee aufgesetzt.«
In der Wohnung ist es still.
»Wo ist Fanny?«, frage ich, und Simone sagt: »Beim Vater.«
Auf der Eckbank türmen sich Berge zerknitterter Babybekleidung.
»Wir haben uns getrennt«, sagt sie und stellt zwei altmodische Tassen mit verschnörkelten Henkeln auf den Tisch. »Es war das Beste, was mir passieren konnte. In der Beziehung war ich Alleinerzieherin und immer für alles zuständig. Seit der Trennung teilen wir uns die Verpflichtungen. Die Trennung hat uns erst zu Eltern gemacht, die beide zu gleichen Teilen ihre Verantwortung wahrnehmen, ist das nicht verrückt?«
Fannys Vater lebe nicht weit von hier, drei Straßen weiter, doch in Wahrheit sei er Lichtjahre entfernt, sagt Simone. Er führe mittlerweile ein neues Leben mit einer neuen Frau, und auch sonst habe er alles ausgetauscht in seinem Leben: seinen Beruf, seine Ziele, seine Frisur, einfach alles, sagt Simone. Früher sei er groß und stattlich gewesen, ein Bild von einem Mann. Heute sei er nur noch ein Schatten, sein eigenes Negativ. Werner, so heißt er, sei geschrumpft, alles an ihm habe sich zusammengezogen, als verdorre er innerlich, aber das scheint ihn nicht weiter zu kümmern, und auch seiner neuen Frau mache es nichts aus, im Gegenteil, denn auch sie sei mittlerweile so dünn, dass die Sonne an hellen Tagen geradewegs durch sie durchscheine. Dafür kümmerten sie sich beide umso liebevoller um Fanny.
Es ist schön, Simones Singsang zuzuhören, beruhigend zu sehen, wie sie in der Küche mit Besteck und Geschirr hantiert, und wenn ich die Augen schließe, dann finde ich mich in der alten Küche meiner Eltern wieder, als ich noch zu klein war, um Sorgen, zu jung, um einen Mann zu haben, ich schlief allein in einem schmalen Bett in einer kleinen Kammer, in die der Mond schien, und mein Vater
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