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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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unauffindbar. Meine Mutter hatte sich Tränen von meinem Vater geborgt, sie hatte keine mehr.
    Später, viel später hörte ich von einem Psychologen einen Ausdruck für das, was damals mit meiner Mutter geschah: Mein Verschwinden hatte bei ihr einen Riss im seelischen Bindegewebe verursacht. Und dieser Riss war ein Abgrund. Und ich sah diesen Abgrund in ihren Augen, als ich nach vier Tagen wieder vor ihr stand.
    »Geh zu deiner Mutter!«, sagte ich hilflos.
    »Warum denn?«, sagte Bettsy.
    »Geh einfach zu ihr und sprich mit ihr.«
    »Echt nicht!«
    Wir saßen noch eine halbe Stunde an der Haltestelle. Straßenbahnen kamen und fuhren ab, Leute setzten sich neben uns. Wir schwiegen. Die Sonne schien. Das Schutzdach warf einen Schatten über uns. Dann begleitete ich Bettsy zum Haus. Sie klingelte. Ihr Vater meldete sich über die Sprechanlage. Grußlos drückte sie die Tür auf und ging hinein.
    Ich stellte mich auf die Stufe und lehnte die Stirn gegen das Eisengitter vor dem Fenster. Ich schloss die Augen. Dann drehte ich mich um und schrie.

7
    I ch schrie so laut, dass drei Minuten später ein Streifenwagen vorfuhr. Da war ich schon wieder still.
    Ich hatte die Türschwelle verlassen und stand auf dem Gehweg. Die Leute an der Straßenbahnhaltestelle starrten zu mir herüber. Ich schrie in den blauen, klaren Himmel hinauf. Vielleicht vierzig Sekunden lang. Nachdem ich den Kollegen meinen Ausweis gezeigt hatte, bat ich sie, mich in die Drachenseestraße zu fahren. Hier hatte Inge Thaler eine kleine Änderungsschneiderei. Und manchmal half ihr Lotte Grauke bei der Arbeit. Von Graukes Verschwinden wusste sie nichts.
    »Sie hat Sie nicht angerufen?«, sagte ich.
    Sie sagte: »Ich hab seit drei Wochen nichts von ihr gehört.«
    Inge Thaler nähte mit einer alten Singer-Maschine den Reißverschluss an eine Jacke. Abrupt hörte sie damit auf, dachte nach und nahm ihre Brille ab. »Hoffentlich hat er sich nichts angetan.« Sie machte eine Pause. Ich stand eingezwängt zwischen niedrigen Schränken und einem Tisch, der den engen Raum beinah ausfüllte.
    »Sie hat manchmal so Andeutungen gemacht… Dass er nicht mit ihr redet, dass er nur noch arbeitet… viel trinkt…«
    »Er geht ins Wirtshaus«, sagte ich, als wäre das ein Widerspruch zu dem, was Inge Thaler gerade gesagt hatte.
    »Ja, das auch… Ehrlich gesagt, ich fands nicht verwunderlich, weil… Wenn Lotte von daheim erzählt hat, dann eigentlich nur von ihrer Schwester… Paula… So, als wär sie mit ihr verheiratet und nicht mit ihrem Maximilian… Mich gehts nichts an…«
    »Hat sie das letzte Mal, als sie hier war, von ihrem Mann oder ihrer Schwester gesprochen?«, sagte ich. In dem Raum war es kühl. Überhaupt war es nicht so heiß wie am Vortag, ein leichter Wind wehte, und ich hätte den Spaziergang mit Bettsy noch zwei Stunden fortsetzen können. Ich wollte mich jetzt beeilen.
    »Sie hat kaum was geredet«, sagte Frau Thaler. »Ich hab sie gefragt und sie wollt nicht rausrücken damit… Sie haben sich anscheinend gestritten, sie und ihr Mann. Oder sie und ihre Schwester, oder alle drei. Ich bin nicht schlau aus ihr geworden, sie machte einen ziemlich bedrückten Eindruck, ja…« Sie zog die Stirn in Falten und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. »Ja, sie hat gesagt, sie weiß nicht, was mit ihm los ist, mit ihrem Mann, mein ich, sie hat sich Sorgen um ihn gemacht, aber so in der Richtung, dass sie… dass sie nicht versteht, warum er was nicht versteht… Verstehen Sie?«
    »Unbedingt«, sagte ich.
    »Bitte?«
    Ich versuchte sie dazu zu bringen, sich genauer zu erinnern. Aber sie meinte, Lotte Grauke habe nur Andeutungen gemacht, irgendetwas trieb sie um, über das sie nicht sprechen konnte. Oder wollte.
    An der Tür sagte Frau Thaler: »Ehrlich gesagt, so richtig wunder ich mich jetzt nicht, wenn ich hör, dass der Maximilian verschwunden ist. Hoffentlich finden Sie ihn schnell.«
    Von unterwegs rief ich Sonja an. Sie hatte mit weiteren Nachbarn gesprochen. Ich bat sie, mit der Mutter von Lotte Grauke einen Termin zu vereinbaren, danach sollte sie ins »Glockenbachstüberl« kommen.
    »Ich mag nicht in eine Kneipe«, sagte sie. »Es ist so schön draußen, und wir hocken uns in den Qualm.«
    Als sie kam, stand der Campingstuhl schon parat.
    »Nur weil du von der Polizei bist!«, hatte Alex gesagt.
    »Die Leute beschweren sich, das wirst du sehen, die mögen das nicht.«
    Er hatte Recht. Die Leute beschwerten sich. Die Frauen.

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