Süden und der glückliche Winkel
dann hat er ihn zurückgebracht und ist wieder gegangen. Wie immer. Und zwar nach Hause. Wieso ist es da nicht angekommen?«
»Er hat einen Schlüssel für Ihre Wohnung«, sagte ich.
»Nein. Er wollte keinen, wahrscheinlich hat er befürchtet, seine Frau könnte ihn finden. Und meistens bin ich ja da, wenn er kommt. Wenn ich nicht da bin, geb ich ihn beim Bäcker vorn ab, und Cölestin hinterlegt ihn dort wieder.«
»Auch am Mittwoch«, sagte ich.
»Es war alles wie immer. Was mag bloß passiert sein?« Ich schwieg.
Sie strich sich über die Stirn.
Nach einer Weile sagte sie: »Wir haben kein Verhältnis , wir haben nie zusammen geschlafen. Er wollts nicht, am Anfang haben wir uns geküsst, aber ich hab schnell gemerkt, dass es ihm nicht um Sex geht, das ist okay, ich bin gern mit ihm zusammen, ist manchmal etwas merkwürdig, weil er nichts sagt… Fast so wie Sie. Wir treffen uns, und er schaut der Isar beim Fließen zu. Wir gehen dann meistens eine halbe Stunde spazieren, setzen uns am Hochufer auf eine Bank, und das ist alles. Mir tut das gut. Ich schalt ab, ich komm echt zur Ruhe, hätt ich nicht gedacht, mal solche Rendezvous zu haben. Ein paarmal hab ich ihn geküsst, da ist er fast erschrocken, aber dann hat er mich auch geküsst. Wie die Teenager. Der Mann ist fünfzig, und ich bin auch schon einundvierzig. Der ist schon ein seltenes Exemplar von Mann.«
»Haben Sie ihn gefragt, ob er mit Ihnen schlafen will?«
»Er wollts nicht, sag ich doch.«
»Hat er einen Grund genannt?«
»Ja«, sagte Annegret Marin. »Er hat gesagt, er ist verheiratet. Da hab ich gesagt, das weiß ich, aber wenn er mich heimlich trifft, betrügt er doch seine Frau sowieso schon irgendwie. Er sagte, das wär kein Fremdgehen, Fremdgehen wär was ganz anderes, das hat er ein paarmal betont. Dass Fremdgehen was ganz anderes wär.«
»Er hat es nicht genauer erklärt.«
»Hat er nicht.«
»Wenn er gesprochen hat, worüber dann?«, sagte ich.
»Über nichts Besonderes, über die Arbeit, über den Alltag, übers Alleinsein.«
»Übers Alleinsein«, sagte ich.
»Alleinsein! Ich hab ihn gefragt, ob er spinnt? Er hat eine Ehefrau, eine heimliche Freundin, einen festen Job, bei dem er täglich Leute und Kollegen trifft. Ich hab ihn gefragt, wann ausgerechnet er allein sein soll.«
»Was hat er geantwortet?«
»Dauernd, hat er gesagt. Allen Ernstes. Dauernd. Er sei dauernd allein, immer schon. Hat er gesagt. Ich hab ihn gefragt, ob er da nicht was verwechselt. Was weiß der vom Alleinsein? So ein behütetes und geordnetes Leben möcht ich mal haben! Alleinsein! Ich hätt mich fast gestritten mit ihm deswegen.«
Für den türkischen Verkäufer im Naturkostladen hatte Cölestin Korbinian kein Gesicht. Er habe, sagte der junge Mann, gerade Kunden bedient und gar nicht richtig hingesehen. Frau Marin, von der er bisher nur den Vornamen gekannt hatte, habe regelmäßig bei ihm eingekauft, selbstverständlich habe er gern ihren Schlüssel verwahrt, und der Mann mit dem Strohhut habe diesen auch wieder zurückgebracht, gegen halb vier, aber sicher sei er sich nicht. Ich kaufte zwei Brezen und aß eine auf, während ich vor dem Geschäft schreienden Kindern und ziemlich unentspannten jungen Müttern bei ihren Erziehungsversuchen zuhörte. Ein etwa vierjähriges Mädchen mit einer roten Sonnenbrille im blonden Haar schaute mir zu, wie ich meine Breze kaute, die vielleicht aus biologischen Gründen sehr trocken und so gut wie ungesalzen war.
Ohne auf die Ermahnungen ihrer Mutter zu reagieren, ahmte das Mädchen meine Kaubewegungen nach und grinste.
»Möchtest du eine Breze?«, sagte ich.
Abrupt hörte das Kind auf, mich nachzumachen. Ich nahm die zweite Breze aus der Tüte und hielt sie dem Mädchen hin.
»Schenke ich dir.«
Das Mädchen streckte den Arm aus.
»Du isst jetzt nichts!«, sagte die Mutter, eine Frau Anfang dreißig, die wie ihre Tochter eine rote Sonnenbrille im blonden Haar trug.
»Doch«, sagte das Kind.
»Nein, Sidonie!«, sagte die Mutter. Sie sprach die beiden letzten Buchstaben des Namens getrennt aus. Der Streit zwischen den beiden hatte damit begonnen, dass Sidonie sich weigerte, beim Fahrradfahren ihren Helm aufzusetzen, den sie auf den Boden geworfen hatte.
»Brezel«, sagte das Mädchen.
»Nein!«, sagte ihre Mutter und packte den Arm der Tochter, die sofort zu kreischen begann.
»Kennen Sie diesen Mann?«, sagte ich und zeigte der Frau Korbinians Foto.
Sie warf einen kurzen Blick darauf. »Nein. Wer
Weitere Kostenlose Bücher