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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sind Sie?«
    »Tabor Süden, Kriminalpolizei, Vermisstenstelle, wir suchen diesen Mann.«
    »Ich kenn ihn nicht.«
    »Er hat manchmal hier in der Straße einen Hund ausgeführt.«
    »Da ist er nicht der Einzige«, sagte die Frau und zog am Arm ihrer Tochter, was in deren Kopf einen raffinierten Kreischmechanismus anzukurbeln schien. Andere Kinder blieben stehen und hörten interessiert zu.
    »Das ist der Hund von Frau Marin«, sagte ich.
    »Der blinde Hund!«
    »Was für ein blinder Hund, Mama?«, sagte Sidonie und hörte schlagartig auf zu kreischen.
    »Der Nero von Annegret«, sagte die Frau.
    »Der Nero«, wiederholte das Mädchen und seufzte, als bedauere sie das Schicksal des gebeutelten Hundes.
    »Das ist der Mann, der heut in der Zeitung ist«, sagte die Frau.
    »Ja. Er war am Mittwoch hier und ist mit dem Hund spazieren gegangen.«
    »Ich hab ihn nicht gesehen. Wir müssen jetzt los.«
    Als ich die Kunigundenstraße erreichte, hörte ich, wie Sidonie Helmlos wieder loskreischte.
    Niemand in den angrenzenden Straßen hatte den Postler gesehen, niemand erinnerte sich an einen Mann mit Strohhut und in einem blauen Hemd. Im Gasthaus, das direkt am Schwabinger Bach lag, fragte ich die Kellnerinnen und die ersten Biergartengäste nach ihm, erfolglos.
    Im gesamten Karree zwischen Ungererstraße, dem Isarring und der Dietlindenstraße hielt kein einziger der ungefähr fünfzig Passanten, die ich befragte, eine Begegnung auch nur für möglich. Zeitweise dachte ich, sie wollten einfach nichts mit Korbinian zu tun haben.
    Von einer Telefonzelle aus rief ich im Dezernat an, um mich zu erkundigen, ob sich auf das Foto in der Zeitung hin weitere Zeugen gemeldet hätten.
    »Du musst sofort kommen«, sagte Freya Epp. »Auf Martin ist geschossen worden.«

6
    A ls er mir die Tür öffnete, roch ich sofort den Alkohol aus seinem Mund, und als ich ihn umarmte, hatte ich den Eindruck, sogar sein Nacken dünstete den Rauch der Salems aus. Mit bleichem Gesicht und unsicheren Schritten ging Martin Heuer vor mir her in sein Wohnzimmer. Auf dem Tisch standen vier volle Bierflaschen und eine angebrochene Wodkaflasche, daneben lagen fünf noch verschlossene grüne Packungen Zigaretten und einzelne Streichhölzer, unter dem Tisch hatte er drei leere Flaschen deponiert. Wortlos hob er den Arm und ließ sich in den beigen Stoffsessel fallen, den er besaß, seit wir unsere ersten Kommissarsausweise erhalten hatten.
    Auf seinem steinfarbenen Gesicht regte sich kein Muskel, die dünnen Haare klebten ihm vor Schweiß auf dem Kopf, in seinem ausgewaschenen blassgrünen T-Shirt und der ausgebleichten, ehemals roten Jeans wirkte er noch dürrer als sonst, und wie fast immer, wenn ich ihn besuchte, war er barfuß. Ich zog meine Jacke aus und setzte mich auf die schwarze Ledercouch und sackte nach unten, was nicht nur mit meinem Gewicht zusammenhing. Martins Einrichtungsgegenstände erreichten allmählich einen antiquarischen Status.
    Ich hatte keine Lust zu trinken, aber ich trank trotzdem. Beim ersten Schluck sagte Martin mit heiserer Stimme:
    »Möge es nützen!« Das sagte er, seitdem er irgendwo gelesen hatte, dies sei die Übersetzung von Prosit.
    »Möge es nützen!«, erwiderte ich und stellte die Flasche zurück auf den Tisch. Alle vier Flaschen waren bereits geöffnet.
    Nach dem Vorfall hatte Martin jede medizinische Hilfe abgelehnt. Kollegen von der Streife hatten ihn ins Dezernat gebracht, wo sich dessen Leiter, Karl Funkel, mit dem Martin und ich befreundet waren, sowie Volker Thon und Sonja Feyerabend um ihn kümmerten. Sie kochten ihm Tee, ließen ihn nicht allein. Beruhigungstabletten und ein Gespräch mit dem Polizeipsychologen lehnte er ab.
    Obwohl er kaum in der Lage war, ein Wort herauszubringen, gelang es ihm, den Tathergang zu rekonstruieren und anschließend ein Protokoll zu verfassen. In der Zwischenzeit riefen die ersten Reporter an, die von dem Zwischenfall in dem Neuhausener Kaufhaus erfahren hatten, und Funkel beraumte kurzfristig eine Pressekonferenz an, um den Realitätsgehalt der Meldungen halbwegs zu kontrollieren. Schon fragten einige Journalisten am Telefon, ob es sich womöglich um den terroristischen Anschlag eines Selbstmordattentäters gehandelt habe, zumal ein stark besuchtes Kaufhaus am Samstagmittag ein ideales Ziel darstelle.
    Doch der Mann, der geschossen hatte, war kein Terrorist, er war ein heruntergekommener verzweifelter Popmusiker, ein Exstar, hoch verschuldet, alkoholsüchtig, wegen

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