Süden und der glückliche Winkel
Einbruchdiebstahls und Körperverletzung vorbestraft, der dabei erwischt worden war, wie er Unterwäsche stehlen wollte. Kein Geld, keinen Alkohol, sondern Unterhosen und ein Paar Socken. Beim Anblick des Mannes, der sich ihm in den Weg stellte und einen Polizeiausweis hochhielt, zog er eine Pistole und drückte sofort ab. Der Schuss ging in die Wand, vor Schreck ließ der Täter die Waffe fallen, stieß Martin zu Boden und rannte die Rolltreppe hinunter. Leute schrien, einige riefen »Ein Anschlag!«, und manche dachten, Martin sei tödlich verletzt worden, weil er reglos am Boden lag. Eine halbe Stunde später verhafteten meine Kollegen den Täter in seiner Wohnung, Zeugen hatten ihn wiedererkannt. Allerdings ging der Musiker zunächst mit einem Messer auf die Polizisten los, weswegen einer von ihnen gezwungen war zu schießen. Die Kugel traf den Angreifer in die Brust. Nach Aussage des zuständigen Chirurgen hatte der Musiker sehr viel Glück gehabt und war nach der Operation außer Lebensgefahr.
Der Vorfall erinnerte Funkel an jene Nacht vor vielen Jahren, als er noch im Außendienst arbeitete und gemeinsam mit einem Kollegen einen Mann kontrollierte, den sie aus der Drogen und Dealerszene rund um den Hauptbahnhof kannten. Und aus einem Grund, der Funkel bis heute ein Rätsel geblieben war, bemerkte er die Handbewegung des Verdächtigen zu spät, obwohl sie im Schein einer Straßenlampe standen und nichts und niemand sonst ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Das Messer zerstörte Funkels linkes Auge. Angeblich konnte sich der zugedröhnte Täter hinterher an nichts erinnern.
Nach einer vierstündigen Operation stand fest, dass Funkel auf dem linken Auge blind sein würde. Da er kurz vor der Beförderung zum Kriminaloberrat gestanden hatte, entschied der Innenminister, ihn trotz seiner schweren Behinderung im Dienst zu belassen, er übertrug ihm sogar die Leitung des Dezernats 11. So wurde und blieb Karl Funkel der einzige Kriminalist Deutschlands, der eine schwarze Augenklappe trug. Und wäre nicht zufällig unmittelbar nach der Attacke ein Sanitätsauto vor dem Bahnhof aufgetaucht, hätte, so erklärte uns der behandelnde Arzt hinterher, die Gefahr einer Verblutung bestanden.
»Soll ich eine Suppe kochen?«, sagte ich.
Martin starrte wie schon die ganze Zeit lange vor sich hin. Dann sah er mich mit einem Ausdruck vollkommenen Unverständnisses an.
»Was für Suppe?«, sagte er.
»Willst du dich nicht ins Bett legen?«, sagte ich.
Wieder benötigte er mehrere innere Anläufe für eine Antwort. »Hab ich versucht. Ich fall sofort runter. Ich krieg keine Luft vor lauter Runterfallen. Wie wenn ich aus einem Flugzeug springen würd, ohne Schirm.«
Wir schwiegen.
Martin beugte sich zur Seite und holte eine Schachtel Salem vom Tisch, steckte sich eine Filterlose in den Mund und sackte erschöpft in sich zusammen. Die Packung fiel ihm aus der Hand, zwischen seine nackten Füße.
»Er hätt treffen sollen«, sagte er. »Hätt ich ihm nicht übel genommen. Was gehen mich seine Unterhosen an?«
Er war, nachdem er das Dezernat verlassen und darauf bestanden hatte, dass niemand ihn begleitete, mit der Straßenbahn zuerst zu meiner Wohnung gefahren. Aber ich war bereits zu Annegret Marin unterwegs gewesen und Sonja wieder bei sich zu Hause. Er habe, gestand er mir später, nur einmal kurz geklingelt, wahrscheinlich hätte ich sowieso nicht geöffnet, weil ich ja nie öffnen würde, wenn es klingelte.
Nein.
Bestimmt hätte ich vom Treppenhausfenster im dritten Stock nachgesehen, wer unten stand. Auch hätte ich ihn zu Annegret Marin mitnehmen sollen, wir waren beide mit dem Fall beschäftigt.
Manchmal denke ich, die Dinge, die dann später passierten, hatten ihren Ursprung in der Herrenabteilung des Kaufhauses am Rotkreuzplatz.
Manchmal denke ich, wenn ich ihn am Morgen mitgenommen hätte, wäre sein Leben anders verlaufen , das Leben, das danach kam, das erbarmungslose Leben.
In der Stille dieses Winters bitte ich ihn um Verzeihung. Ich gebe mich dieser lächerlichen Vorstellung hin, weil ich die leere Wand dann besser ertrage. Die Wände in diesem Hotelzimmer sind nicht gelb wie die meines Zimmers in der Deisenhofenerstraße, wo ich damals Sonja geliebt und Martin beherbergt habe.
Tatsächlich war es mir gelungen, ihn zu überreden, einige Tage bei mir zu wohnen. Er schlief auf der ausziehbaren Couch in dem kleinen Zimmer, das ich sonst nur zum Lesen betrat.
Da wohnten wir, obwohl wir unser ganzes
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