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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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bisheriges Leben miteinander verbracht hatten, zum ersten Mal unter einem Dach. Und zum letzten Mal. Und Sonja hatte mich mit angezorntem Unterton gefragt, wieso ich währenddessen nicht bei ihr übernachtete.
    »Ich kann ihn nicht allein lassen«, sagte ich.
    »Warum denn nicht?«
    »Er braucht jemanden zum Reden.«
    »Er redet doch gar nicht. Und du auch nicht.« Ich schwieg.
    Wir standen im türkischen Café im Erdgeschoß des Dezernats, sahen hinaus zu den Passanten und Straßenbahnen und Autos, tranken schwarzen Kaffee und bildeten ein stures Duett.
    »Du hast erst ein einziges Mal bei mir übernachtet«, sagte Sonja.
    »Ja«, sagte ich.
    »Wie ein Mann mit vierundvierzig Jahren so eingefahren sein kann!«
    Eine Woche nach diesem Gespräch, es war Samstagnachmittag, und wir hatten zusammen geschlafen, fragte Sonja: »Wie lange bleibt er noch bei dir?«
    »Er ist heute Nacht weg«, sagte ich.
    »Warum hast du mir das nicht erzählt?«
    »Ich hätte es noch getan«, sagte ich.
    »Und wo ist er jetzt?«
    Nach dem Vorfall im Kaufhaus hatte Volker Thon Martin zwei Wochen frei gegeben.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du willst es mir nicht sagen.«
    »Ich weiß es wirklich nicht.«
    »Und wo, glaubst du, ist er?«
    »Unterwegs«, sagte ich. »Draußen und unterwegs.«
    So hatten wir uns das große Leben ausgemalt: Unterwegs und draußen. Ohne Idee von der Zukunft, jedenfalls von einer umrandeten Zukunft, in deren Mitte unsere Existenz wurzelte. Wir gingen zur Schule, wir besuchten das Gymnasium, wir strebten das Abitur an, wir bemühten uns um gute Noten, wir durchliefen die Pubertät, und unser Verhalten nahm erwachsene Züge an. Erstaunt sahen wir uns zu. Martins Eltern erwarteten von ihrem Sohn, dass er eine solide Ausbildung absolvierte, ein Studium, einen Abschluss machte, der ihn in eine Bank, wie seinen Vater, oder in eine Apotheke, wie früher seine Mutter, führen würde, erreichbare Ziele, und wenn die Rede darauf kam, widersprach Martin nie und präsentierte auch keine eigenen Vorschläge. Meine Mutter war tot und mein Vater verschwunden und meine Zieheltern, mein Onkel Willibald und meine Tante Lisbeth, die Schwester meiner Mutter, rechneten im Stillen damit, ich würde wie mein Vater Ingenieur werden und mein Leben in der örtlichen Maschinenbaufabrik verbringen. Das hätte ich nie getan. Aber was sonst?
    In der Nähe des Dorfes, in dem wir aufwuchsen, gab es einen Hügel, an den sich ein Wald anschloss, und dessen Hänge und Lichtungen waren die Fernen unserer Zukunft. Hier verbrachten wir eine Zeit, die noch gar nicht begonnen hatte, wir spielten nicht Winnetou oder Robin Hood oder Robinson und Freitag, hier spielten wir uns selbst außerhalb der gewöhnlichen Gegenwart. Wir aßen wilde Himbeeren und Erdbeeren, exotische Früchte, denn die, die wir sonst kannten, waren klebrig und süß und hatten unwirkliche Farben. Von einem Hochsitz aus beobachteten wir Rehe und Füchse, leibhaftige, lebhafte Wesen wie wir, die sich nicht einfangen und einengen und am Ende töten ließen. Dass wir nicht unsterblich waren, wussten wir – eine Klassenkameradin aus der Volksschule ertrank im Taginger See, einer unserer Freunde wurde von einem Auto überfahren, ein anderer erstickte mit seinem Vater in einem Silo –, aber wir wussten, dass wir erst sterben würden, wenn wir ein Leben gehabt hätten, ein für uns bestimmtes, einmaliges Leben. Und dies fand an den Hängen, in den Schluchten und auf den glitschigen Pfaden des Gibbonhügels statt, jeden Tag, auch wenn wir aus schulischen oder sonstigen Gründen verhindert waren, die Wirklichkeit dort wartete auf uns.
    Und wir, davon waren wir von unserem elften Lebensjahr an überzeugt, würden uns in diese Wirklichkeit hinein verwandeln, niemand würde uns daran hindern, sie würden es alle nicht einmal bemerken. Eines Tages wären wir verschwunden und hätten unser altes Leben abgelegt wie einen zerschlissenen Mantel oder einen unbrauchbar gewordenen Panzer, und nur manchmal, aus Übermut oder in einem Anflug von Erinnern, kehrten wir für kurze Zeit in die alten Häuser, zu den alten Gesichtern zurück, sprachen , wie man es von uns erwartete, und wunderten uns vielleicht, wie selbstverständlich wir uns noch immer zurechtfanden. Als ich sechzehn Jahre alt war und am zweiundzwanzigsten Dezember mein Vater spurlos verschwand und nur einen Brief zurückließ, der mich trösten sollte, hörte ich auf, in den Wald zu gehen, und Martin ebenso. Von einem Tag auf den anderen

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