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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Schritte auf die Wand zu und lehnte sich mit der Schulter dagegen, gekrümmt, mit schlenkernden Armen.
    Er lehnte an der gelben Wand wie jemand, der hofft, die Wand würde einstürzen und ihn unter sich begraben, so tief hing sein Kopf, so ohne jeden eigenen Willen wirkte der dürre Körper. Ich ging zu ihm und drückte ihn an mich, und es war, als umarmte ich einen Abschied aus Knochen und Zittern.

9
    A uf den »armen Mann«, wie sie ihn liebevoll und gleichzeitig mit kritischem Unterton nannte, ließ sie trotz aller Zweifel an seinen Absichten nichts kommen. Er sei immer auffallend gepflegt gekleidet gewesen, habe oft eine Weile mit ihr gesprochen und sie sogar einmal zu einem Kaffee eingeladen, den sie aber ablehnen musste, weil sie die Kasse nicht verlassen durfte. In jüngster Zeit habe er ihr oft nur kurz zugewinkt, bevor er in die Ausstellungsräume hineinging, er habe, meinte Gerlinde Falter, ein wenig »gehetzt« oder einfach nur »anders« gewirkt als sonst. Ob er am vergangenen Mittwoch unter den Besuchern im Haus der Kunst gewesen sei, könne sie beim besten Willen nicht sagen, aber am Freitag war er auf jeden Fall da, am Abend, und er hatte Streit mit dem Hans, das habe sie der Polizei sofort gemeldet, nachdem sie das Foto in der Zeitung gesehen hatte.
    »Haben Sie früher an diesem Tag mit ihm gesprochen?«, sagte ich.
    »Nein«, sagte Gerlinde Falter. Sie trug ein eng anliegendes grünes Sommerkleid mit weißen Streifen, an dessen Kragen sie ständig zupfte, außerdem rückte sie mehrfach ihre Brille zurecht und senkte den Blick, wenn sie etwas sagte.
    »Wissen Sie, wie der Mann heißt, den wir suchen?«, sagte ich.
    »Stand doch in der Zeitung!«, sagte sie hastig. »Cölestin Korbinian.«
    »Sie haben sich den Namen gemerkt.«
    »Ja«, sagte sie und schaute ihre Kaffeetasse an.
    Wir saßen in der Cafeteria im Vorraum. Ununterbrochen kamen Besucher herein, oft in Gruppen, die durcheinander sprechend herumstanden und darauf warteten, eine Einlasskarte in die Hand gedrückt zu bekommen. Alle Tische des Cafes waren besetzt.
    »Er hat sich nie bei Ihnen vorgestellt«, sagte ich.
    »Da müsst ich mir ja viele Namen merken, wenn das jeder tun würd«, sagte Gerlinde Falter, die dreiundfünfzig Jahre alt war und seit fast zehn Jahren im Haus der Kunst als Kassiererin arbeitete.
    »Ich bin sicher, er hat sich bei Ihnen mit Namen vorgestellt«, sagte ich.
    Mit einem halben Kopfschütteln sah sie einer Gruppe älterer Frauen hinterher, die es offensichtlich sehr eilig hatten.
    »Meine Kollegin wird langsam sauer«, sagte sie.
    »Ich bin schuld«, sagte ich.
    Sie zupfte an ihrem Kleid, an ihrem Hals schimmerten winzige Schweißperlen. Für mich war sie die bisher wichtigste Zeugin, vor allem deshalb, weil sie im Gegensatz zum Busfahrer Eberhard Stamm, zu dem Mann aus der Heiliggeistkirche und den vier anderen Personen, die sich im Dezernat gemeldet hatten und mittlerweile von Paul Weber und Freya Epp vernommen worden waren, anscheinend etwas vor mir verbarg. Das gefiel mir. Nicht, dass ich ihr unterstellte, sie würde mich anlügen oder mich auf eine falsche Fährte locken wollen, sie strickte nur an einem Verschweigen, dessen Muster sie aber nicht kannte, weil ihr die Erfahrung fehlte.
    An meinem Schweigen scheiterte das ihre.
    »Wenn sie keine Fragen mehr haben, dann geh ich jetzt«, sagte sie, und es gelang ihr, mich anzusehen.
    »Worüber haben Sie mit Herrn Korbinian gesprochen, Frau Falter?«, sagte ich.
    »Gesprochen kann man das nicht nennen, wir haben geplaudert.«
    »Worüber?«
    »Was man halt so sagt, wenn man an der Kasse steht«, sagte sie. »Dies und das. Was Allgemeines, und wenn man sich schon mal gesehen hat, sagt man halt, dass man sich freut, sich wiederzusehen.«
    »Nein«, sagte ich. »Ich meine nicht, wenn Sie an der Kasse miteinander sprechen, sondern wenn Sie sich hier in der Cafeteria treffen.«
    Anders als bei einem echten Lügner schoss ihr das Blut ins Gesicht, sie nestelte an ihrer Brille, ähnlich wie Thon an seinem Halstuch, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, nahm die Brille ab und setzte sie sofort wieder auf.
    Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und stemmte die Hände in die Hüften. Befragungen im Sitzen durchzuführen verursachte mir Rückenschmerzen, Nackenschmerzen, Kopfschmerzen, abgesehen davon, dass mir die Hose zu eng war und ich jedes Mal, wenn ich länger saß, den obersten Knopf unter dem Gürtel öffnen musste, im Moment unmöglich, da die kunstgierige

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