Süden und der Luftgitarrist
Verblüffung fuhren wir die Glyzinienstraße entlang, vorbei an schlichten , sauberen Einfamilienhäusern mit umzäunten Vorgärten. Wegen Martins Fahrstil hatte ich viel Zeit, mir vorzustellen, wie es wäre, hier zu wohnen, am ausfransenden Rand der Stadt, in einer Illusion von Idylle, im Dunstkreis von Kinderarmut, Prostitution und Industrie, vielleicht mit einem hinkenden Hund aus dem Tierheim, den ich aus Gesundheitsgründen bitten würde, auf dem Bürgersteig vor »Leons Treff« auf mich zu warten, die Gäste dort würden doch nur seine restlichen drei Beine zertreten, meine Vorstadttrinker, die mich hassen, weil ich Polizist bin, aber gleichzeitig von mir verlangen, ihre Strafzettel zurückzunehmen. Samstag Abend in die Trattoria »La Giara II«, Kinky unterm Tisch, er kriegt von Luisa einen eigenen Napf, viel später bedanken wir uns beide, er wedelt mit dem Schwanz, ich verspreche, unbedingt wiederzukommen, und jede Nacht ein Spaziergang, und im Sommer vergnügliches Planschen im Lerchenauer See.
In dieser Gegend hatte Aladin Toulouse ein Haus gekauft, nicht im Süden Münchens wie andere Sportler und Prominente, nicht im Grünen, in einer Vorzeigeumgebung, am Hochufer der Isar, in Parknähe, unter Gleichgesinnten und ebenbürtigen Verdienern. Stattdessen hatte er sich für ein jenseitiges Viertel entschieden, außerhalb des Lichtkegels, der gerade begonnen hatte, auf ihn zu fallen, und anscheinend hatte niemand versucht, ihn umzustimmen, nicht einmal sein Manager, der nach Aussage von Mildred Loos zu ihm in einem kameradschaftlichen Verhältnis stand.
Dann gelang es Martin, auf die Lerchenauer Straße zurückzufinden.
Bevor ich anfing, die Aussagen der Mutter anzuzweifeln, rief ich noch einmal bei ihr an. Aber sie schwor, sie habe von dem stetigen Kontakt zwischen ihren Söhnen nichts gewusst. An den Namen des Freundes, der Aladin das Haus vermittelt hatte, konnte sie sich nach wie vor nicht erinnern, und in ihren Unterlagen und Briefen, die sie in der Zwischenzeit durchgesehen hatte, gab es nicht den geringsten Hinweis auf ihn.
»Sie hat keinen Grund, uns anzulügen«, sagte Martin. Über die Auskunft besorgte ich mir die Telefonnummer und Adresse von Esther Pfau, Aladins Exfreundin. In ihrer Wohnung schaltete sich der Anrufbeantworter ein, allerdings hinterließ Esther die Nummer ihres Handys. Während ich mit der Frau sprechen wollte, würde Martin Heuer Aladins ehemaligen Hausarzt aufsuchen, dessen Angaben für die Fahndung von großer Bedeutung sein konnten, zudem benötigten wir für die Vermisstenanzeige Details über die Verletzungen – zurückgebliebene Narben und andere sichtbare Merkmale –, außerdem Schemata der Zähne, alles, was uns bei der möglichen Identifizierung eines Toten weiterhalf. Gegenüber Mildred Loos hatten wir diesen Teil unserer Arbeit verschwiegen.
»Wo sind Sie?«, sagte ich ins Autotelefon.
»In der Theatinerstraße«, sagte Esther Pfau.
»Dann treffen wir uns in einer halben Stunde im ›Franziskaner‹.«
»Ich bin verabredet«, sagte sie. »Und ich muss vorher noch nach Hause. Ich hab mit dem Aladin schon lang nichts mehr zu tun.«
»Ja«, sagte ich. »Zwanzig Minuten, länger dauert unser Gespräch nicht.«
»Können wir das Gespräch nicht am Telefon führen? Ich hab sonst echt ein Problem. Mein Freund rastet immer gleich aus.«
»Ihr Freund, der Trainer?«, sagte ich.
»Was?«, sagte sie.
Für einige Sekunden war die Verbindung unterbrochen, dann rauschte und knackte es in der Leitung.
»Was?«, sagte sie noch einmal.
»Sie sind mit einem Fußballtrainer liiert«, sagte ich. In der einen Hand hielt ich den Hörer fest, mit der anderen den kleinen karierten Block, den ich auf mein Knie gelegt hatte, um mir Notizen zu machen.
»Ich seh nichts im Rückspiegel«, sagte Martin. Ich saß auf der Rückbank genau zwischen den Vordersitzen.
»Ist doch egal«, sagte ich. »Die überholen uns doch sowieso alle.«
»Ich hab Ihren Namen nicht richtig verstanden«, sagte Esther Pfau ins Handy.
»Tabor Süden«, wiederholte ich. »Dezernat 11, Vermisstenstelle.« Ausnahmsweise nahmen wir einen kleinen Recorder zu Hilfe, der auf dem Beifahrersitz lag und Esthers Antworten aus dem Lautsprecher aufzeichnete.
»Haben Sie in letzter Zeit mit Aladin Toulouse gesprochen?«, sagte ich.
»Nein, schon lang nicht mehr. Was ist denn los? Er ist verschwunden? Was meinen Sie damit?«
»Niemand hat Kontakt zu ihm«, sagte ich, obwohl ich mir mittlerweile nicht mehr sicher
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