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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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am rechten Handgelenk .
    Ihr Blick wechselte ständig zwischen Distanziertheit und Neugier. Kaum lächelte sie, schon verschlossen sich ihre Lippen wieder, und ihr leicht gebräuntes rundes Gesicht wirkte seltsam abweisend, fast aggressiv. Seit sie wusste, dass wir von der Polizei waren, beobachtete sie uns misstrauisch und verkrampft.
    »Meine Mutter ist in Taging beerdigt«, sagte ich. »Sie wäre gestern siebzig geworden, deswegen bin ich hier. Martins Eltern leben beide noch. Heuer.«
    »Wie heuer?«, sagte Sissi mürrisch .
    »So heißen sie, Heuer.«
    »Kenn ich nicht«, sagte Sissi. Ein Gast am Fenster winkte ihr, und sie wandte sich ab.
    Martin und ich tranken wortlos. Wir saßen nebeneinander, die Arme auf der Theke, unbeachtet von den beiden Männern an der Schmalseite, die wie wir Bier tranken und gelegentlich, wie aus purer Höflichkeit, ein Wort wechselten.
    »Ich hab das im Hotel nicht so gemeint«, sagte Martin . »War eine blöde Bemerkung mit deinem Vater.« Er hob seine Flasche, und wir stießen an. »Du hast ziemlich merkwürdig reagiert. Tut mir Leid.«
    »Ich bin erschrocken«, sagte ich. »Im Nachhinein habe ich an Bogdan denken müssen, und wenn ich an Bogdan denke, muss ich an meinen Vater denken. Und jetzt, am siebzigsten Geburtstag meiner Mutter …« Ich trank, stellte die Flasche ab, sah zu den beiden Männern hinüber, die vor sich hin stierten, und leerte die Flasche. »Warum nicht?«
    »Warum nicht?«, sagte Martin und drehte seine Flasche zwischen den Händen.
    Bei der Suche nach zwei Kindern in München war ich vor einiger Zeit einem Stadtstreicher begegnet, der sich während meiner Befragung mehrmals übers Gesicht gestrichen hatte, von oben nach unten, mit der flachen Hand, die er dann vor den Mund hielt, als habe er sich versprochen und sei darüber erschrocken oder geniere sich. Und diese Geste kannte ich von meinem Vater, sie tauchte wie eine längst verheilt geglaubte Wunde in meiner Erinnerung auf, sodass ich in einer Art Schmerzanfall versuchte, den Mann wiederzutreffen. Es gelang mir nicht. Keiner seiner Bekannten in der Gegend des Ostbahnhofs, wo er sich normalerweise aufhielt, hatte ihn mehr gesehen.
    Das Ungeheuerliche war, dass er später, in einem anderen Fall, im Dezernat anrief, um mir eine Information zukommen zu lassen, die meine Ermittlungen entscheidend beeinflusste. Wieder hoffte ich auf ein Treffen, und wieder vergeblich. Obwohl er bei unserem Gespräch im Ostbahnhof einen langen, verwitterten Mantel getragen hatte, hatte ich beim Anblick des Mannes am Friedhofscontainer nicht an Bogdan gedacht. Erst Martins flapsige Bemerkung brachte mich darauf und erschreckte mich, als hätte ich tatsächlich denselben Mann gesehen und die Chance verpasst, endlich mit ihm persönlich zu sprechen .
    Warum nicht?
    Was für eine absurde, beklemmende Frage. Ich war sechzehn, als mein Vater am zweiundzwanzigsten Dezember, einem Sonntag, verschwand. Kurz zuvor hatte ich Bibiana kennen gelernt, im Partykeller ihrer älteren Schwester .
    Warum nicht?
    Und wenn er es war, weshalb gab er sich nicht zu erkennen? Weil ich ihn nicht auf Anhieb erkannt hatte? Weil ich blind war? Weil ich auf der Vermisstenstelle der Kripo arbeitete und es nicht geschafft hatte, ihn in all den Jahren aufzuspüren? Weil er mir etwas beweisen wollte? Was? Wozu denn? Bogdan. Mein Vater hieß Branko .
    »Willst du einen Wodka?«, fragte Martin.
    »Warum nicht?«, sagte ich.
    Auch die beiden Männer uns gegenüber tranken inzwischen Schnaps, und ich sah einen Moment lang hin .
    Dann hob ich noch einmal den Kopf, stieg vom Barhocker und ging ohne ein weiteres Wort zu den Toiletten .
    Dort schloss ich mich in der einzigen Kabine ein, holte meinen karierten Block aus der Hemdtasche, schrieb eine Nachricht für Martin auf einen Zettel, faltete ihn zusammen und legte ihn auf Martins Oberschenkel, als ich mich wieder an den Tresen setzte.
    Wir warteten, bis Sissi den Wodka brachte, tranken ihn, und dann ging Martin zu den Toiletten .
    »Zahlen, bitte«, sagte ich.
    »Schon?«, sagte Sissi.
    »Morgen früh um sechs müssen wir zurück nach München«, sagte ich. »Falls Niko kommt, grüß ihn von uns, wenn du magst.«
    »Das müsst ihr schon verstehen«, sagte sie. »Ihr seid Bullen, und wegen euch ist der Niko ruiniert. Deine Kollegen haben den verhört, und für die Zeitungen war das der Beweis, er hätte was damit zu tun, dass Anna nicht mehr da ist. So läuft das. Ich mein das nicht persönlich, du sagst, du bist

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