Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
am Gitterzaun angelangt. Auf der Ladefläche eines Pick-ups liegt Hoockney, übel zugerichtet, zwischen zwei Vögten.
»Scheiße, jetzt sind wir aufgeschmissen.«
Peter hat keine Zeit zu antworten. Die Schlagstöcke der Profose treiben die gelben Overalls in den Innenhof zum Appell. Dort zerren die Vögte Hoockney vom Wagen. Um seine Handgelenke und Knöchel liegen schwere Eisenschellen, die eine Kette miteinander verbindet. Beim Anblick dessen, was von seinem Gesicht noch übrig ist, brechen manche in Tränen aus: Er sieht aus, als hätten sich die Vögte mit Stiefeltritten an ihm abreagiert. Auch die Hunde haben ihn angegriffen – er blutet aus zahlreichen Bisswunden. Zwei rote Overalls packen Hoockney unter den Achseln und schleppen ihn davon. Sein gebrochener Knöchel stößt gegen einen Stein, und aus seinen aufgerissenen Lippen dringt ein Heulen. Mühsam dreht er den Kopf zu den im Quadrat aufgestellten Häftlingen und ruft: »Sechs Meilen nach Norden. Hastings. Kleinstadt.«
Ein Tritt in die Leber lässt ihn vornüberfallen. Er erbricht einen blutigen Brei. Ehe er im Kolonialhaus verschwindet, schreit er: »Vergesst mich nicht, Leute, bitte, vergesst mich nicht!«
Die Hunde beginnen, die Blutspuren aufzulecken, die er zurückgelassen hat, und die Profose jagen sie mit Treibstöcken zurück in den Raum zwischen den Zäunen. Peter sucht Wendys Blick. Sie wankt, ihre Augen sind fiebrig, sie scheint ihn nicht mehr zu erkennen. Es überläuft ihn kalt. Er fürchtet, sie zu verlieren.
Die Tür des Kolonialhauses öffnet sich wieder. Der Reverend ist tadellos gekleidet wie immer, trägt jetzt aber auch weiße Handschuhe. Es wird gemunkelt, dass er sich seit einiger Zeit weigert, Gegenstände und Menschen zu berühren. Er tritt an sein Mikrofon.
»Der Kriminelle, der zu flüchten versuchte«, haucht er hinein, »wurde auf die Krankenstation gebracht, wo er auf seinen Transport ins nächstgelegene Krankenhaus wartet. Er hat uns verraten, gewiss. Dennoch werden wir für sein Seelenheil beten.«
Bedächtig reibt er seine behandschuhten Hände aneinander und lässt den Blick über die versammelten Häftlinge gleiten. »Von heute an«, sagt er, »biete ich jedem Gelben, der einen Verräter anzeigt, einen blauen Overall. Im Gegenzug mögen sich diejenigen, die etwa die Absicht hegen, ihrerseits einen Fluchtversuch zu unternehmen, bewusst sein, dass mein Zorn dem Zorn Gottes in nichts nachsteht. Wir versammeln uns jetzt im Gebetsraum zur Beichte. Ich werde in euren Seelen lesen, denn eure Seelen sind Spiegel.«
87
»Für schmutzige Seelen ist kein Platz mehr in Redemption. Kein Platz mehr für Sünde und Lüge. Ich liebe euch bereits, und ihr – ihr werdet mich hassen. Und dann wird euch das Licht der Erkenntnis leuchten, und ihr werdet begreifen, dass außerhalb der Festungsmauern von Redemption keine Hoffnung ist. Denn Redemption ist das neue Jerusalem, und ihr seid die Erwählten.«
Die Augen des Reverends wechseln die Farbe. Wenn er gelassen ist, sind seine Augen von sehr hellem Blau; gerät er aber in Erregung, erscheint ein grünliches Funkeln in all dem Blau.
»Ich war wie ihr. O ja, auch ich war ein Verbrecher, ein Gewalttäter, ein Spielball meiner Triebe. Dann richtete Gott Seinen Blick auf mich. Er peitschte mich aus, bis ich sühnte und in Seinem Blut, Seinen Tränen, Seinem Schweiß gerettet wurde. Ihr werdet mir sagen, ihr seiet Pumas, wo ihr in Wahrheit doch nur Hyänen seid. O ja, das seid ihr, und das war auch ich: eine Hyäne Gottes. Aber Gott liebt euch bereits. Ihr, ihr werdet Ihn hassen, doch Er liebt euch um jeden Preis. Ich war ein Hund, jetzt bin ich ein Wolf. Einen Wolf belügt man nicht. Man sagt ihm nicht: ›Ich bin ein Lamm‹, wenn man in Wahrheit ein Ziegenbock ist oder eine kleine stinkende Zicke.«
An Estermans Schläfe schwillt und pulsiert eine blaue Ader, in seinen Mundwinkeln bilden sich Schaumbläschen. Trotz seiner fiebrigen Augen und des Schweißfilms auf seiner Stirn bleibt seine Stimme ruhig. Kunstvoll schraubt sie sich aufwärts zu den hohen Tönen, ehe sie wieder tief hinabgleitet. Sie beherrscht die Jugendlichen, manipuliert und kommandiert sie, hebt sie empor und stößt sie hinab, rammt jedes Wort wie einen Nagel in die weiche Masse der Hirne.
»Es gibt kein Vergehen und keinen Fehler, die unser Herr nicht verziehe. Was ich heute haben will, sind eure Geheimnisse, eure schmutzigen kleinen Wunden, eure verborgenen Krusten und der Eiter eurer Seele. Ich will
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