Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
wissen, was niemand sonst weiß. Das Warum und vor allem das Wie. Das Wie ist die Wunde, das Warum der Eiter. Hört ihr und versteht?«
Hier und dort erhebt sich ein »Ja!« im Gebetsraum. Vorläufig ist es nur ein Gemurmel, aber es will nichts anderes, als das ganze Gewölbe zu erfüllen.
»Hört ihr und versteht?«
Die Jugendlichen gehorchen: »Ja! Ja!«, ertönt es erneut, vielstimmig, deutlich und laut. Die Tonwelle schwillt an, wiederholt immer dasselbe Wort in einem Konzert hoher und tiefer, kindlicher und bereits erwachsener Stimmen. Dann verebbt der Lärm wie eine am Strand auslaufende Brandung, und aus den Lautsprechern trieft wieder die Stimme des Reverends.
»Wer will beginnen?«
Alle sehen sich verstohlen um und lauern auf eine Hand, die sich aus dem Wald der Köpfe, Haare, Münder in die Höhe reckt. Sie rutschen in den Bänken hin und her. Angst macht ihnen nicht die Aussicht darauf, an die Reihe zu kommen, als vielmehr der Gedanke, sich dem Blick der anderen zu stellen, ohne etwas vorbereitet zu haben. Sie gehen in sich und versuchen, den Mut aufzubringen, den es braucht, um sich freiwillig zu melden. Unbewusst bemühen sie sich, den Reverend zu erfreuen.
»Ich.«
Alle Köpfe wenden sich der dünnen Stimme zu, die gerufen hat – ein Kristallsplitter im bleiernen Schweigen. Wie eine im Meer treibende Plastiktüte ragt die Hand, die zu dieser Stimme gehört, zwischen den Haarschöpfen hervor. Die Augen des Reverends heften sich auf Wendy. Er winkt sie zu sich. Sie steht auf und macht sich auf den Weg durch den Mittelgang nach vorn. Peter starrt sie beschwörend an. Blicklos geht sie an ihm vorüber. Bald ist sie nur noch ein Rücken inmitten der Köpfe, die sich nach ihr drehen. Sie steigt die Stufen zum Pult hinauf, bis sie zur Rechten des Reverends steht. Er mustert das Geschöpf vor ihm von Kopf bis Fuß. Er riecht am Haar des Mädchen.
»Wie heißen Sie?«
»Wendy Moore.«
»Sind Sie ein Lamm oder eine schmutzige kleine Zicke, Wendy Moore?«
Peter spürt Howards Hand auf seinem Arm. Er lässt Wendy nicht aus den Augen.
»Ich bin eine schmutzige kleine Hündin voller Eiter.«
Wendy ist am Ende ihrer Kraft. Eine Träne rinnt ihr über die Wange. Sie wischt sie ab, ehe sie die Lippen erreicht. Wieder erhebt sich die Stimme des Reverends, säuselnd wie eine Brise weht sie daher, als käme sie von allen Seiten zugleich.
»Wir hören, Wendy Moore.«
»Darf ich mit einer Fürbitte anfangen?«
Der Reverend scheint unschlüssig. Er glättet sein langes Haar und sagt: »Ja, wenn Sie uns danach sagen, welchen abstoßenden Schmutz Sie unter der Schale Ihres hübschen Körpers verbergen. Werden Sie uns das alles sagen, Wendy Moore?«
»Ja.«
»Wir hören.«
Wendys tiefes Luftholen dringt als Knistern und Rauschen aus den Lautsprechern.
»Für euch alle, Abschaum, Kadaver, Böcke und Schweine. Für euch, rote Overalls, und euch, blaue Overalls, Mörder unseres Kumpels Hoockney, ich scheiße auf euch und verfluche euch. Auch für Sie, Reverend Esterman, Mädchenschänder und Gotteslästerer. Für diese Hölle, deren Tore nur unser Tod öffnen wird, verfluche ich Sie, Sie ganz besonders.«
Wendy schluchzt. Der Reverend tätschelt ihr ermutigend die Schulter. Peters gesamter Körper verkrampft sich, und Ezzie muss ihm seine dicke Pfote auf die Schulter legen, um zu verhindern, dass er aufspringt.
»Wir hören, Wendy Moore.«
Wendy fährt sich mit beiden Händen über ihre tränenverschmierten Wangen.
»Für dich, allmächtiger Herr, Gott der Schweine, Hunde und Ziegen. Für deine Morde, deine Versprechungen und deinen Verrat. Auch für dich, elender und krimineller Jesus, der du uns verlassen hast, bete, spucke, kotze ich.«
Nach diesen letzten Worten bricht Wendys Stimme ab. Sie fühlt den Atem des Reverends im Nacken. Sie spürt, wie seine langen Arme sich um sie schlingen. Sie schmiegt sich an ihn. Das Mikrofon mit der einen Hand dicht vor den Lippen, während er mit der anderen über die Haare des Mädchens streicht, murmelt er: »Danke für Ihre Fürbitten, kleine eitrige Hündin. Für heute wollen wir es genug sein lassen, doch später, o ja, später werden wir noch viel mehr von Ihnen hören, Sie werden Ihr Versprechen erfüllen. Denn Sie wollen doch Ihr Wort halten und uns alles sagen, nicht wahr, Wendy Moore?«
Wendy drückt ihre Lippen auf die des Reverends. Sie atmet den Atem des heiligen Mannes ein. »Ja«, haucht sie.
88
»Wer möchte noch das Wort ergreifen?«
Hier und dort
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