Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
nach Hause gekommen war.
Tatsache war: Jemand hatte ihr die Jeans und das T-Shirt ausgezogen, so dass sie jetzt nur BH und Höschen trug.
Tatsache war: Ihre Hände und Füße waren mit extrabreiten und -langen Kabelbindern gefesselt, und sie wurde gegen ihren Willen in einem Raum festgehalten, der wie eine Krypta aussah.
Diese Tatsachen waren bizarr und grausam, wenn man sie nüchtern betrachtete. Aber sie waren real. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das Lance, der Psychologe aus dem Resozialisierungslager, immer wieder betont hatte: Du schaffst dir deine eigene Realität.
Damals hatte sie gedacht, noch nie so etwas Dummes gehört zu haben, doch jetzt, wo sie darüber nachdachte, war es vielleicht genau das, was er gemeint hatte. In einer wirklich schlimmen Situation bemitleidet man sich entweder selbst, oder man kann …
Chelsea blieb mucksmäuschenstill liegen, als das Licht eingeschaltet wurde. Die Tür zu dem verfallenen Raum, in dem sie eingesperrt war, öffnete sich quietschend. Chelseas Mund wurde trocken.
An der Schwelle stand ein Mann in Anzug und mit Skimaske über dem Kopf.
Das alles hier passiert nicht wirklich, dachte sie, als der Mann eintrat und sich neben sie kniete.
» Hey, Chels«, sagte der Mann in höflichem Ton. Dann schlug er ihr seine Stirn ins Gesicht, und die Welt um sie herum wurde schwarz.
Sie kam erst wieder zu Bewusstsein, als sie ein Zischen hörte. Der Mann mit der Skimaske zurrte den letzten Gurt fest, mit dem er sie auf einen Werkzeugwagen schnallte. Mit diesem rollte er sie aus dem Raum, holperte mit ihr einige Stufen hinauf und wirbelte sie in schwindelerregender Weise um die Ecke und einen langen, gefliesten Flur entlang.
Der Raum, in den er sie schob, hatte eine niedrige Decke, und an einer Wand stand eine lange Arbeitsplatte aus Edelstahl. Mit einem lauten Rasseln blieb der Wagen stehen.
» Ich habe nichts …«, begann Chelsea zitternd. » Ich h-h-habe nichts getan.«
» Genau«, bestätigte der Entführer hinter ihr. » Vielleicht hättest du etwas tun sollen. Hast du das schon einmal überlegt? Hast du überlegt, was du versäumt hast zu tun?«
Der Mann ging zum Waschbecken, unter dem ein Fünfzehn-Liter-Eimer stand. Diesen zog er heraus und drehte den Wasserhahn auf.
» So, ich möchte, dass du einen kleinen Test machst«, sagte er, während er den Eimer füllte. » Das Thema ist Wasser. Wusstest du, dass eins Komma eine Milliarde Menschen weltweit keinen Zugang zu frischem Wasser haben? Das sind eine Menge Menschen, meinst du nicht auch? Und jetzt meine Frage: Wie viel frisches Wasser braucht man, um dein Abercrombie-and-Fitch-T-Shirt und deine Dolce-und-Gabbana-Jeans zu waschen?«
Ich bin in einem Albtraum, dachte Chelsea und blickte den Mann an, der den Wasserhahn wieder zudrehte. Den schweren Eimer mühelos in der Hand haltend, trat er vom Waschbecken zurück.
Ich bin Alice. Ich bin in das Kaninchenloch gefallen und habe das falsche Stück Kuchen gegessen.
Schließlich senkte Chelsea den Blick. » Ich weiß nicht«, flüsterte sie beinahe.
Ohne Warnung packte der Mann den Eimer am Boden und schleuderte ihr das eiskalte Wasser mitten ins Gesicht. Und sie hatte vorher schon gedacht, ihr wäre kalt! Sie drehte beinahe durch. Jetzt war ihr arktisch kalt. Galaktisch kalt.
» Man braucht hundertfünfzig Liter!«, schrie der Mann mit der Skimaske. » In den Dörfern des ländlich geprägten Kambodscha und in Norduganda kämpfen jeden Tag zwei- bis dreihundert Menschen um eine Handpumpe, um das bisschen Wasser zu bekommen, das sie zum Überleben benötigen. Familien sterben wegen Wassermangel. Du verschwendest höchstens einen matten Gedanken an Wasser, wenn der Kellner fragt, ob du es mit oder ohne Kohlensäure möchtest!
Jetzt Frage Nummer zwei: Wie viele tausend Menschen weltweit sterben täglich durch Krankheiten, die durch verschmutztes Wasser verursacht werden, wie Cholera, Ruhr und Hepatitis?«
Chelsea hörte nicht mehr zu. Ihr war viel zu kalt, um noch zuhören oder denken zu können. Sie hatte das Gefühl, ein Gletscher liefe durch ihren Körper und ließe ihre Muskeln, Sehnen und Knochen erfrieren. Bald würde das Eis ihr Herz erreichen und es zum Stillstand bringen wie einen eingefrorenen Motor.
Der Mann ging mit dem Eimer zum Waschbecken zurück, während er die Titelmelodie der Kult-Gameshow Riskant! pfiff, und drehte den Wasserhahn erneut auf.
20
Emily Parker wachte um sechs Uhr morgens – welch unchristliche Zeit! – von einem
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