Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
hatte, dauerte keine New Yorker Minute, als ich die Seiten von Emilys Aufzeichnungen las. Das letzte Opfer war das bisher jüngste: eine siebzehnjährige Highschool-Schülerin namens Mary Beth Haas. Sie wurde seit dem Mittag vermisst. Zuletzt war sie gesehen worden, als sie die Brearley School, eine sehr exklusive Mädchenschule auf der East 83 rd Street, verlassen hatte, um in die Schulsporthalle auf der East 87 th Street zu gehen.
Dort war sie nicht angekommen. Das arme Mädchen schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
» Die Ähnlichkeit zur Entführung von Hastings ist auffallend«, stellte ich fest. » Beide wurden von exklusiven Schulen in Manhattan entführt. Wir müssen nach Lehrern suchen, die einen Bezug zu beiden Schulen haben.«
» Keine neuen Spuren, die zu Hastings führen?«, fragte Emily.
» Einige Kollegen suchen nach der russischen Freundin, haben sie aber bisher nicht gefunden«, antwortete ich und blickte wieder auf den Bericht.
Dort stand, dass Mary Beth Haas’ Mutter, Ann, Generaldirektorin und Hauptaktionärin des Price Templeton Fund war, dem zweitgrößten Investmentfonds auf der Wall Street. Kein Wunder, dass unser neuester Fall im One Police Plaza alle Alarmglocken in Gang gesetzt hatte.
» Ich habe die Mutter im Internet überprüft«, fuhr Emily fort. » Sie ist die fünft- oder sechstreichste Frau in den USA. Ihr Vater hat den Fonds aufgelegt, doch es heißt, sie hat sich von einer Analystin hochgearbeitet und wäre auch ohne das Erbe ihres Vaters zur Generaldirektorin ernannt worden. Er hat ihr 34 Prozent der Aktienanteile hinterlassen. Sie gehört auch zu den größten Sponsoren des Philharmonischen Orchesters und der Öffentlichen Bibliothek von New York.«
» Das Einzelkind einer megareichen New Yorker Familie wie der Dunnings, der Skinners und Gordon Hastings’?«, fragte ich.
Emily nickte. » Ich kann nicht glauben, dass er so schnell wieder zugeschlagen hat. Er muss sich Mary Beth geschnappt haben, noch bevor das Lösegeld für Dan Hastings unterwegs war.«
» Bei aller Liebe«, schimpfte ich und wollte irgendetwas mit der Faust zerschlagen. » Ich dachte, er wäre fertig, nachdem er seine fünf Millionen bekommen hat. Jetzt zwei an einem Tag? Woraus ist dieser Kerl geschnitzt? Und worauf hat er es abgesehen, wenn nicht auf Geld?«
Wir schossen über die Brooklyn Bridge und nahmen die erste Abfahrt in das teuerste Viertel von Brooklyn Heights. Zwei Zivilfahrzeuge standen bereits vor dem stattlichen braunen Gebäude im neoklassischen Baustil auf einer Allee mit Namen Columbia Heights. Es lag oberhalb der Brooklyn Promenade und hatte vielleicht den herrlichsten Ausblick über das südliche Manhattan, den es gab.
Ein weiblicher Detective von der Mordkommission Brooklyn Süd öffnete die Tür. Hinter ihr nahm ein Techniker in einer Windjacke mit NYPD-Aufdruck ein Wandtelefon auseinander.
Ich blickte auf, als eine zierliche Frau um die fünfzig mit sehr kurzem, blondem Haar die Treppe herunterkam. Immer wieder fuhr sie mit der Hand durchs Haar, während sie hektisch telefonierte. Ich stöhnte innerlich über die intensive Trauer und Verzweiflung in Ann Haas’ Gesicht. Ich konnte mir kaum vorstellen, was sie durchmachte. Konnte nur raten, wie unvorstellbar traurig, wütend und zerstört ich wäre, wenn eins meiner Kinder vermisst würde. Mrs. Haas ging eindeutig durch die Hölle.
» Ich glaube, das FBI ist da, John. Ich rufe dich zurück«, sagte sie ins Telefon, als sie das Ende der Treppe erreicht hatte und uns ins Wohnzimmer winkte.
Sie ließ sich auf ein riesiges, mit Seide bezogenes Sofa sinken. Ihr Telefon, das sie auf eine alte, als Tisch dienende Schiffstruhe gelegt hatte, fiel scheppernd zu Boden. Trotz ihres teuren Businesskostüms und ihrer schwarzen Strumpfhose sah sie wie ein kleines Mädchen aus, wie sie so mit angezogenen Beinen auf dem Sofa saß.
Die scharfen Konturen der Silhouette von Manhattan schienen an der Panoramascheibe hinter ihr zu kratzen. Sie drehte sich um und betrachtete die Bürotürme.
» Ich habe uns nach Mary Beths Geburt von diesem verrückten Ort weggebracht, weil ich so etwas wie Normalität und Sicherheit suchte«, sagte sie leise und schüttelte den Kopf. » Ich wollte sie immer mit dem Wagen zur Schule bringen und von dort wieder abholen lassen, aber seit sie vierzehn war, bestand sie darauf, mit der U-Bahn zu fahren.
Freunde von mir engagieren Profis, die ihren reichen Kindern verständlich machen sollen, wie normale Menschen
Weitere Kostenlose Bücher