Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
versaute Sünderin, Ann, genauso wie Ihr Mann, dieser glanzlose, englische Blender.«
»Bitte lassen Sie mich mit Mary Beth sprechen«, flehte Mrs. Haas. »Nur eine Sekunde lang. Was auch immer ich Ihnen angetan habe, es tut mir Leid.«
»Mir auch«, sagte der Entführer. »Aber mit Mary Beth zu sprechen ist nicht möglich. Ich bin hier, um Ihnen beizubringen, dass Sie ein Mensch sind, Ann. Und wie alle Menschen müssen Sie sich mit der Realität des Verlusts abfinden. Sünde und Verlust gehen Hand in Hand. Bitte reichen Sie jetzt das Telefon an meinen Freund Detective Bennett weiter. Es war mir trotz ihrer abstoßenden Sprache eine wahre Freude, mit Ihnen zu sprechen. Ich hoffe, er hat nicht Ihre Hoffnungen bezüglich Mary Beth geschürt, Frau Vorsitzende. Wobei – eigentlich hoffe ich doch, dass er es getan hat. Je größer der Hochmut, desto tiefer der Fall. Ta-ta!«
»Hier Detective Bennett«, meldete ich mich, als ich der weinenden Ann das Telefon abnahm. »Wie geht’s Mary Beth? Geht’s ihr gut?«
»Mary Beth geht es gut, Mike. Im Moment noch. Doch ihr steht eine schwere Prüfung bevor. Eine Abschlussprüfung, könnte man sagen. Es liegt alles in ihrer Hand. Ich rufe Sie an, sobald ihre Noten feststehen.«
»Moment, wollen Sie kein Geld?«
»Alles Geld dieser Erde könnte Mary Beth nicht davor bewahren, sich ihrem Schicksal stellen zu müssen, Mike.«
Was, zum Teufel, sollte das heißen? Plötzlich hörte ich ein durchdringendes Geräusch im Hintergrund, ein Klick-Klack . Ich zuckte zusammen. Verdammt, gerade hatte er eine Automatikpistole geladen.
»Beten Sie für Mary Beth, Mike. Das ist alles, was sie jetzt noch hat.«
58
Mary Beth Haas biss noch fester auf den dicken Gazeklumpen, der in ihrem Mund steckte, während sie sich mühsam aufsetzte. Seit mehreren Stunden lag sie in einer stockdunklen Metallkiste mit niedriger Decke. Wände und Boden waren verrostet. Ihre Arme steckten in einer Zwangsjacke. Zuerst war sie erschrocken gewesen. Dann wütend. Jetzt war sie einfach nur traurig, unendlich, untröstlich, hoffnungslos traurig.
In der dunklen, engen Kiste sitzend, gingen ihr wie in einer Albtraumschleife immer wieder die Ereignisse durch den Kopf. Sie wusste, sie hätte eigentlich nicht den Campus verlassen dürfen, um beim Brearley Field House auf der 87 th Street ihre Runden zu drehen. Doch als ältere Schülerin und Co-Kapitänin der Volleyball-Siegermannschaft drückten ihre Lehrer und Trainer oft ein Auge zu, wenn sie sich während ihrer morgendlichen Freistunden davonschlich.
Sie war durch einen dieser höhlenartigen Gerüsttunnel auf der Straßenseite gegenüber der Sporthalle gekommen, als ein Mann neben einer offenen Lieferwagentür sie mit » Mary Beth?« angesprochen hatte.
Sie erinnerte sich an das stechende, betäubende Gefühl in ihrer Brust, als sie sich der Stimme zuwandte. Ihr gesamter Körper schien sich in dem Moment zu verkrampfen, in dem sie kraftlos nach vorne fiel. Ein starker, medizinischer Geruch erfüllte ihre Nase und ihren Mund, dann wurde sie ohnmächtig.
In der Zwangsjacke gefangen, war sie mit heftigen Kopfschmerzen aufgewacht. Das war wann gewesen? Vor sieben oder acht Stunden? Acht Stunden Schwärze und Stille. Acht Stunden Hunger und Durst und Dreck und Auf-die-Toilette-gehen-Müssen. Es war, als säße sie auf dem offenen Meer. Auf einem dunklen Meer, wo es keine Hoffnung auf Rettung zu geben schien.
Zuerst war die Traurigkeit unerträglich gewesen, doch jetzt ließ sie nach, erstarb wie eine zu Ende gehende Kerze. Sie dachte an ihre Freunde und Lehrer. An ihre Mutter. Es tut mir leid, dachte sie. Entschuldigt bitte, ihr alle, weil ich so dumm war. Weil ich diesen Mist gebaut habe.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit noch vergangen war, als ein Stahlrollladen scheppernd hochgezogen wurde.
O Gott, da kommt jemand. Der Entführer.
Panik ließ sie erstarren. Er würde sie bestimmt anfassen. Das taten sie doch immer, die durchgeknallten Typen. Sie taten einem weh. Vergewaltigten einen. Töteten einen. Mary Beth wimmerte. Es wäre leichter, einfach so begraben zu werden. Sie wollte nicht unter Schmerzen sterben.
Dies war der Moment, in dem sie ihr Selbstmitleid abschüttelte und einen Ort in sich fand, an dem sie Stärke beweisen konnte. Sie würde um ihr Leben kämpfen. Sie würde beißen und schreien und treten. Der Gedanke daran spendete ihr Trost. Sie wollte leben, aber mehr als das wollte sie kämpfen. Plötzlich wusste sie, dass sie es schaffen konnte,
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