Sünden der Faulheit, Die
die Ascorbinsäure erwärmt und die Spritze aufzieht.
Der junge Mann fror. Er beschleunigte seine Schritte. Vor einem Wachhäuschen stand ein Volkspolizist und stampfte mit den Füßen. Penner, dachte er, als er den Langhaarigen sah.
Richard Oelze hatte ›Die Gehörnten‹ 1952 gemalt. Er lebte irgendwo in Norddeutschland in einem kleinen, ungeheizten Gartenhaus und malte und malte. Oft zerriß er seine Bilder oder er verbrannte sie. Zwei seiner Arbeiten hingen schon seit den dreißiger Jahren im Museum of Modern Art, aber man hatte ihn während des Krieges einfach vergessen, den Emigranten, der durch die Auflösung Europas trieb.
Von all dem wußte Lacan nichts. Er saß in seiner Küche und wendete das Bild hin und her. Oben am Rahmen hing noch ein Stück Draht der Alarmanlage. Das Bild war nicht groß, mit zwei Händen konnte man es fast bedecken.
Vor einem dunklen grünen Hintergrund waren auf einem Wüstenstreifen um eine Tempelsäule herum Fabeltiere versammelt: ein Eselskopf mit fliehenden Auswüchsen, ein struppiger Hund mit nur einem Auge, oben ein Habicht im Profil. Alles schien versteinert, von einem Götterfluch der Bewegung beraubt, eine Schädelstätte, mit äußerster Präzision gemalt.
Lacan stützte den Oelze auf die Knie und legte seinen brummenden Kopf auf den Rahmen. Das Telefon schellte, doch Lacan rührte sich nicht vom Fleck. Es bestand gar kein Zweifel, daß er in seinem Schoß ein Bild hielt, das an eine Wand der Akademie der Künste gehörte, und daß er es wohl abgenommen hatte in der vergangenen Nacht. Oder war es Hartmann gewesen? Er erinnerte sich an ihre Sauftour, daran ja, alles andere verschwand in dickem Nebel. Er legte das Bild beiseite und suchte sein Notizbuch, um Hartmann anzurufen, doch da stand nur dessen Münchner Adresse.
Aus dem Nebel tauchte die Akademie, und er sah sich und Roland durch einen großen dunklen Raum stolpern. Verzweifelt blätterte er in dem kleinen Heft. »Wo wohnst du bloß in Berlin?« Bei einer Freundin, in einer Pension, wo hatten sie sich in der Nacht getrennt? Es fiel ihm nicht mehr ein. Er verfluchte Hartmann, den Alkohol, die ganze Welt, aber so kam man nicht weiter. Lacan duschte und zog sich an. Noch einmal suchte er nach einem Anhaltspunkt, nach einer Adresse, wo Hartmann zu erreichen wäre, aber es war zwecklos. Langsam wurde er nervös. Wenn sie das Bild tatsächlich geklaut hatten, mußte es doch Zeugen geben; es gab immer Zeugen, die etwas beobachteten. Er zündete seine erste Zigarette an und war wieder zu einem klaren Gedanken fähig: Wenn ihn irgend jemand gesehen hätte, wäre die Polizei längst erschienen.
Er mußte Hartmann finden. Und ein geeignetes Versteck für das Bild. Sein Kühlschrank war leer. Lacan legte den Oelze auf den oberen Rost neben die Heringe und breitete eine Einkaufstüte darüber. Wer vermutet schon einen echten Surrealisten in einem Zanussi Baujahr ’ 71 ? Lacan verließ das Haus wie gewohnt über den Hof. Es war nur wenig über null Grad, Rußteilchen schwebten in der Luft.
Die Schlagzeilen der Zeitungen meldeten das, was sie jeden Tag melden. Ein Verrückter hatte schon 36 Schaufenster eingeschlagen, und auf der Titelseite der BZ war das große Foto eines fünfzehnjährigen Türken, der ein Kind aus dem Landwehrkanal gerettet hatte. Zum Dank erhielt er eine Lehrstelle als Schlosser und die Verdienstmedaille des Landes Berlin. Der Regierende Bürgermeister beschwor in einer Ansprache das Miteinander von Deutschen und Ausländern.
Es war Dienstag, und am Abend lief ›Dallas‹ im Fernsehen, der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak ging weiter, und in den Büros der Finanzmakler flimmerten auf Bildschirmen die Börsenkurse. Nasser Schnee fiel, und es gab keine Katastrophen in Europa.
Franz Belasc hatte sich vorgenommen, wieder jeden Tag zu trainieren. Damals in Wien war er ein vielversprechender Mittelgewichtler gewesen. Ihm stand ein Titelkampf zu, als er gegen seine Bewährungsauflage verstieß und ein Jahr ins Gefängnis mußte. Nach seiner Entlassung gab es für ihn nur drei Möglichkeiten: sich wieder hochboxen, kriminell werden oder das Angebot Pieter van Steenbergens akzeptieren. So wurde Franz Belasc der Sekretär eines Amsterdamer Kaufmanns.
Er rückte den weißen Seidenschal zurecht und steckte die Hände in die Taschen des eleganten Mantels, den Steenbergen ihm im Herbst geschenkt hatte. Der Seewind fuhr durch seine kurzen Haare. Am Morgen hatte er eine Viertelstunde auf seinem
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