Sünden der Faulheit, Die
Heimtrainer gerudert, er würde das Pensum steigern müssen, um richtig in Form zu kommen.
Vor dem Haus in der Norderstraat spielten zwei junge Hunde. Ihre Besitzerinnen unterhielten sich ein wenig abseits, eine von ihnen bat Belasc um Feuer. Er winkte unwirsch ab und rannte die Treppen hoch. Ein aufgeregter Anruf Steenbergens hatte ihn sofort ins Büro bestellt.
Frau Reemtsma, die Sekretärin, blätterte in einem Flugplan. Steenbergen stand am Fenster und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Wir fliegen in zwei Stunden, Franz. Fahr nach Hause und pack ein paar Sachen ein.«
Belasc sah Steenbergen fragend an.
»Ich erkläre dir alles später, wir müssen uns jetzt beeilen!« Mit einer ungeduldigen Handbewegung setzte Steenbergen seinen Sekretär in Trab. Franz Belasc lief auf die Straße und winkte einem Taxi.
Bernhard Lacan suchte sein Auto. Unruhig lief er um die Häuserblocks, die Hände in die Taschen der Lederjacke gesteckt. Ihn fröstelte. Wenigstens ließen in der kalten Luft seine Kopfschmerzen nach.
Das rechte Vorderrad des Opels stand auf dem Bordstein. Auf den Scheiben blühten Eisblumen. Lacan stieg über einen Schneehaufen, den der Hauswart am Morgen zusammengeschabt hatte, und trat auf die Fahrbahn. Im linken Kotflügel war eine Delle. Erschreckt fuhr er herum, alle Leute auf der Straße starrten ihn in diesem Augenblick an und schüttelten den Kopf. Zu spät, leugnen half nicht mehr, da war der Beweis. Zögernd strich er über den abgesplitterten Lack. Daß Lacan auf dem Hanseatenweg die Kurve nicht gekriegt hatte und gegen die Parkplatzbegrenzung gefahren war, wie sollte er das noch wissen? Den Wert seines Wagens schmälerte der Schaden nicht wesentlich, das war ein Trost, immerhin.
Die Passanten hasteten an ihm vorbei, Mützen und Hüte über die Ohren gezogen. Zwei Jungen kamen ihm auf ihren Rädern entgegen. Sie hatten ihre Hockeyschläger zwischen Gepäckträger und Lenkstange geklemmt und klingelten einen schnüffelnden Hund von der Fahrbahn. Lacan wärmte den Schlüssel an der Feuerzeugflamme und zog die Nase hoch.
Dann sah er Hartmanns Hand auf der Ablage. O Gott, Hartmann, du hast doch nicht im Auto geschlafen? Natürlich, Roland Hartmann schlief immer noch auf der Rückbank. Bernhard Lacan bekam den Schlüssel nicht ins Loch. Er klopfte an die Scheibe, aber Hartmann schlief den Schlaf des Gerechten.
Endlich schnappte die Tür auf. Lacan lehnte sich über den Fahrersitz und schüttelte seinen Freund. Der Arm rutschte starr nach unten. Ein getrockneter Blutfaden lief in Hartmanns Hemdkragen. Roland Hartmann schlief mitten in Charlottenburg mit halbgeöffneten Augen, er war tot.
Lacan hatte noch nie einen Toten gesehen. Verzweifelt riß er an Hartmanns Revers. Die Leiche war steif. »Hartmann, das kannst du doch nicht machen«, stöhnte Lacan. »Los, Mensch, wach auf!«
Der Kopf des Toten wackelte mechanisch auf und ab.
Tränen stiegen in Lacans Augen. Er preßte sein Gesicht auf den Oberarm über der Lehne des Sitzes, seine Hand hielt noch den kalten Stoff des Mantels. Langsam rutschte Lacan nach unten, bis seine Füße aus dem Auto hingen. Als eine Frau mit Einkaufstüten ins Innere gaffte, richtete er sich auf und zeigte auf Roland.
»Dem ist nicht gut.«
»Det passiert öfter bei dem Wetter«, nickte die Frau und ging ihrer Wege.
Lacan saß versunken hinter dem Lenkrad. Ich muß die Feuerwehr rufen, dachte er, einen Rettungswagen. Scheiße, ich hab einen Toten im Auto. Die Polizei? Und er stellte sich den Menschenauflauf vor: all die Berliner Berufsrentner und Alkoholikerhausfrauen, die Tage und Wochen hinter ihren Fenstern auf diese Sensation gewartet hatten. Er fuhr los.
Polizei kam überhaupt nicht in Frage. Was sollte er ihr auch sagen? Den kenn ich nicht? Der hat im Gully gesteckt? Er schaltete das Gebläse des Opels auf Hochtouren. Ihm fiel die Geschichte des Lehrlings ein, dem eines Nachts die Uhr seines Vaters in einen Gully gefallen war und der beim Versuch, sie herauszuholen, in der Röhre steckenblieb und erstickte.
Lacan war nicht zum Lachen zumute. Hartmann mußte sich das Genick oder den Schädel gebrochen haben, oder war er innerlich verblutet? Und er hatte ihn in der Nacht nicht ins Krankenhaus gebracht! Vor einer Ampel rutschte die Leiche halb vom Sitz.
Der Nordwestwind trieb dicke Schneewolken über die Stadt. Einige Wagen hatten schon das Licht eingeschaltet, obwohl es erst kurz nach Mittag war. Am Ernst-Reuter-Platz bog
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