Sünden der Nacht
liebe und verehre Hannah. Sie ist der beste Mensch, den ich kenne. Wenn ich mir vorstelle, daß jemand einfach ihren kleinen Jungen mitnimmt und ihm Gott weiß was antut …«
Carol hob ihr schmerzgepeinigtes Gesicht. »Tut mir leid. Ich hab selbst einen Sohn – Brian. Er ist Joshs bester Freund. Sie spielen im selben Eishockeyteam. Er war an dem Abend auch dort. Es hätte er sein können – furchtbar …«
Megan legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ist schon okay«, sagte sie leise. »Ich weiß, daß Sie helfen würden, wenn Sie könnten. Es war nur eine vage Hoffnung, machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe.«
» Bitte finden Sie Josh«, flüsterte die Frau. Für Megan hörte sich ihre Stimme wie eine Stellvertretung aller anderen in Deer Lake an. Alle litten, alle waren entsetzt. Sie ließen nachts ihre Verandalichter brennen, mit Plakaten an ihren Haustüren, auf denen stand: LICHTER AN FÜR JOSH. Denn nicht nur Josh war geraubt worden, sondern auch ein Teil ihrer Kleinstadtunschuld und -vertrauens.
Leslie Olin Sewek hatte einiges abzubüßen.
»Wir tun alles, was in unserer Macht steht«, sagte Megan.
Auf dem Hinausweg entdeckte sie den Pfeil an der Wand, der zur Cafeteria führte. Sie folgte ihm. Vielleicht würde eine Prise Koffein ihr Kopfweh vertreiben.
Die Cafeteria war nur ein Raum mit Tischen und Stühlen und einer Reihe Automaten. Ein paar Handwerker saßen an einem Tisch in der Ecke, würfelten und tranken Kaffee. Sie schauten nicht einmal hoch, als sie hereinkam.
Megan steckte zwei Münzen in den Getränkeautomaten und drückte den Knopf für Mineralwasser. Christopher Priest wanderte herein, als die Dose durch den Bauch der Maschine rumpelte. Der schwarze Rollkragenpullover klebte an seiner schmalen Brust und kroch seine dünnen Unterarme hoch. Die mageren, knochigen Hände ragten aus den zu kurzen Ärmeln.
»Agent O’Malley.« Seine Augen glänzten überrascht hinter seiner großen Brille. Die Winkel seines lippenloses Mundes zuckten nach oben. »Was bringt Sie denn in die Klinik? Doch hoffentlich nicht dieser Virus, der hier grassiert?«
»Nein, mir geht’s gut. Und Sie, Professor?«
»Einer meiner Studenten liegt hier.« Er fütterte den Kaffeeautomaten mit ein paar Münzen und bestellte sich einen starken, mit Sahne und Zucker.
Megan öffnete ihre Mineralwasserdose, fischte eine Tablette aus ihrer Handtasche und spülte sie mit einem langen Schluck hinunter. Währenddessen beobachtete sie, wie ordentlich und penibel Priest seine Tasse aus dem Automaten nahm und zum Tisch trug. Mit einem Papiertaschentuch wischte er sorgfältig die verschütteten Tropfen vom Rand, dann faltete er es ordentlich und legte es im rechten Winkel links neben seine Tasse.
»Ach ja«, sagte sie und setzte sich in einen Stuhl zur Linken des Professors. »Der Junge, der in derselben Nacht, als Josh entführt wurde, in einen Autounfall verwickelt war?«
»Ja.« Er nippte an seinem Kaffee, den Blick starr geradeaus gerichtet, während der Dampf seine Brille beschlug. »Genau.«
»Wie geht es ihm?«
»Nicht sehr gut, offen gestanden. Es scheinen ein paar Komplikationen aufgetaucht zu sein. Sie müssen ihn möglicherweise in ein größeres Krankenhaus nach Twin Cities verlegen.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Mmm …« Sein Blick wanderte durch den Raum zu einem besonders bunten Poster von dem Heimlich-Manöver. »Mike war unterwegs, um etwas für mich zu erledigen«, sagte er so leise, als würde er ein Selbstgespräch führen. »Für das Projekt über verschiedene Auffassungsgaben und Lernen.«
»Das, von dem Dr. Wright neulich sprach?« »Ja, Mike sagt immer wieder, daß die Straße völlig trocken war, bis er in diese Kurve fuhr.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee und tupfte seinen Mund mit der Serviette ab. »Das Leben ist schon komisch, nicht wahr?«
»Ja, aus meiner Sicht ist es der totale Lacher.«
Er ignorierte ihren Sarkasmus. Seine Neugier war scheinbar rein analytisch und seine Frage mehr an die Welt im allgemeinen gerichtet. »Ist es Schicksal oder ist es Zufall? Was hat Mike Chamberlain in diesem Augenblick an diese Ecke geführt? Was hat Josh Kirkwood an diesem Abend alleine auf den Gehsteig getrieben? Was hat Sie und mich zur selben Zeit hierhergebracht?«
»Klingt wie Fragen der philosophischen Fakultät.«
»Nicht unbedingt. Computerwissenschaft beschäftigt sich mit Logik, Ursache und Wirkung, mit Denkmustern.«
»Ja, also, Professor«, verkündete Megan, nachdem sie ihr
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