Sündenfall: Roman (German Edition)
Dann herrschte Stille.
Radomil grinste. Sein Herrchen war fort. Ohne den sich wild sträubenden Janusz aus den Augen zu lassen, hob er Weronika hoch und schulterte sie so mühelos wie ein Feuerwehrmann. Janusz bemerkte, dass sie kurz nach Luft schnappte. Radomil ging hinaus auf die Galerie. Obwohl Janusz kaum den Kopf bewegen konnte, sah er aus dem Augenwinkel, was nun geschah. Kurz hielt Radomil inne, warf noch einen Blick auf Janusz und kippte Weronika dann übers Geländer wie einen Zementsack.
Im nächsten Moment schien sich Janusz’ gesamte Wahrnehmung zu verschieben. Farben wurden intensiver und greller … und jedes Geräusch hallte laut und schrill wider, als sei er in einem dieser Hip-Hop-Videos gefangen. Er bekam zwar kaum noch Luft, doch sein Verstand war hellwach, und als er das Platschen vier Stockwerke tiefer hörte, das wie eine Explosion klang, spürte er, wie in seinem Kopf eine Uhr ansprang. Sicher hatte sie automatisch nach Luft geschnappt, als sie erschrocken feststellte, dass sie plötzlich fiel. Also blieben ihr seiner Berechnung nach zwei, vielleicht auch drei Minuten, bevor sie ertrank – das hieß, falls sie nicht in Panik geraten war und beim Versinken im Wasser ausgeatmet hatte. Er glaubte nicht, dass es ihr gelingen würde, den Kopf über Wasser zu halten. Nicht mit gefesselten Händen. Während die gewaltige Digitalanzeige der Uhr ihren unvermeidlichen Countdown begann – 178, 177, 176 –, stellte er fest, dass der Druck an seiner Kehle fast unmerklich nachließ, als der Ukrainer sich bewegte, um seinen Griff zu verlagern. Janusz holte tief Luft und spürte, wie der Sauerstoff seine Muskeln erreichte.
Offenbar war der Stuhl während des Kampfes ein Stück näher an den Schneidetisch gerückt, denn einer seiner strampelnden Füße stieß gegen ein Tischbein aus massiver Eiche. Sofort stemmte er die Sohlen seiner Schuhe, Größe fünfundvierzig, gegen die Tischkante und stieß den Stuhl mit aller Wucht auf seinen Rollen nach hinten. Der Druck auf seiner Kehle ließ schlagartig nach, und Janusz wurde mit einem lautstarken Klirren belohnt, als der Ukrainer rückwärts gegen die Fensterscheibe geschleudert wurde. 167 Sekunden .
Als Janusz einen Satz durch die offene Balkontür machte, wirbelte Radomil, der am Geländer stand, herum, und er konnte einen Blick auf sein verdattertes Gesicht erhaschen. Janusz rammte den Mistkerl so heftig mit der Schulter, dass er das Gleichgewicht verlor, und setzte mit einem kräftigen Faustschlag mitten ins Gesicht nach. Der Mann fiel, worauf Janusz sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn warf. Zu seiner Freude ertönte ein sattes Geräusch, das Knacken einer brechenden Rippe, die diesmal nicht seine eigene war. Als er spürte, dass Radomils rechte Hand sich unter ihm bewegte, richtete er sich ein Stück auf und stieß den Ellenbogen gegen das Handgelenk seines Gegners. Die Pistole schlitterte klappernd zum anderen Ende der Galerie. Janusz knallte Radomils Kopf mehrere Male gegen den Metallboden, bis seine Augenlider zu flattern begannen. Doch da er laut seiner inneren Uhr noch 147 Sekunden hatte, kam er zu dem Schluss, dass die Zeit nicht reichte, um die Sache zu Ende zu bringen, so viel Vergnügen es ihm auch bereitet hätte.
Er zog sich hoch und blickte über das Geländer in den cappuccinofarbenen Leamouth hinunter. Regentropfen malten kleine Dellen auf die Wasserfläche. Ein Stück weiter stromabwärts, etwa fünfzig Meter entfernt von der Stelle, wo der Fluss mit einem heftigen Strudel in die Themse mündete, sah er einen blonden Kopf. Janusz stellte fest, dass die gesamte dem Fluss zugewandte Fassade des Lagerhauses mit einem Gerüst versehen war, das bis zur Galerie hinaufreichte. Kurz spielte er mit dem Gedanken hinunterzuklettern, verwarf ihn aber wieder. Nein, es gab nur einen Weg, das Wasser noch rechtzeitig zu erreichen.
120 Sekunden . Während ein am City Airport gestartetes Flugzeug über seinen Kopf hinwegdröhnte, stieg er übers Geländer, verharrte kurz an der Kante und schätzte die Entfernung ab – etwa zwanzig Meter. Dann hielt er sich die Nase zu und stieß sich ab. Das ist das letzte Mal, dass ich einen Auftrag von einem Priester annehme , dachte er noch.
Er war verwundert, wie rasch er unten ankam – und auch von der Wucht des Aufpralls, der sich anfühlte wie eine Kollision mit einem Bus bei fünfzig Stundenkilometern. Dann war da auch noch das eiskalte Wasser, das mit Druck in jede seiner Körperöffnungen strömte. Einen
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