Sündenfall: Roman (German Edition)
ist gestorben … oder besser, sie wurde umgebracht«, fuhr er wie in Gedanken fort. »Als ich sie zu einer Demonstration mitgenommen habe. Das war in Danzig, 1982.«
Als die Erinnerungen auf ihn einstürmten, erschauderte er heftig. Ein bitterkalter, dämmriger Abend; es schneite heftig .
Janusz schilderte Kasia, was geschehen war. Die Worte schienen aus seinem Mund zu strömen, ohne dass er sie bewusst mit den Lippen geformt hätte.
An Weihnachten hatte er Iza in seine Heimatstadt mitgenommen, damit sie seine Mutter kennenlernte. Doch sobald ihm Gerüchte über eine nicht genehmigte Demonstration zu Ohren gekommen waren, um der vier Menschen zu gedenken, die bei einem Protest gegen die Lebensmittelknappheit ihr Leben gelassen hatten, war er sofort Feuer und Flamme gewesen. Seine Mama hatte versucht, es ihm auszureden, und selbst Izas Begeisterung hielt sich in Grenzen. Aber er war beharrlich geblieben. Es sei seine Pflicht gegenüber seinem Vaterland, hatte er mit der Selbstgewissheit der Jugend verkündet. Allerdings hatten ihn andere und weitaus weniger ehrenhafte, jedoch zwingendere Beweggründe getrieben – aber das hatte er niemandem sagen können, damals nicht und auch nicht heute, nicht einmal Kasia.
Die Veranstaltung hatte als friedlicher Marsch zu einer katholischen Kapelle begonnen, um Blumen für die Toten niederzulegen. Aber als die Sonne unterging und es zu schneien begann, war die behelmte Phalanx der ZOMO vorgerückt und hatte die Demonstranten mit ihren Schilden abgedrängt. Sofort erhoben sich die altbekannten »Ge-sta-po! Ge-sta-po!«-Rufe aus der Menge. Daraufhin hatten sich die Sonderkommandos auf die Protestierenden gestürzt, willkürlich junge Männer aus dem Demonstrationszug gezerrt, sie bewusstlos geprügelt und wie Mehlsäcke in die hellblauen Transporter der milicja geworfen. Dann hatte der unverkennbare Knall einer AK -47 die Menschen in Panik versetzt. Helikopter kreisten am Himmel, und Stimmen aus Lautsprechern befahlen den Anwesenden, sich zu zerstreuen. Nur dass die Demonstranten nirgendwo hinkonnten. Die ZOMO s hatten alle auf dem Platz eingekesselt und trampelten ihre rotweißen Fahnen in den Matsch. Die Demonstranten, alt und jung, Arbeiter und Studenten, waren umzingelt und voller Angst. Der Überschwang der Revolte war schlagartig verflogen.
Hinter der Menge erhob sich das berühmte Postamt von Danzig mit seinen verrammelten Fenstern. Dennoch drängten die behelmten Polizisten die Menschen weiter zurück. Die Schreie und Beschimpfungen und das Hufgetrappel der Pferde wurden von einem Geräusch übertönt, das Janusz niemals vergessen sollte: dem widerwärtigen dumpfen Klatschen von mit Blei gefüllten Gummiknüppeln auf menschliche Körper.
Er schnappte nach Luft und erinnerte sich an das Gefühl, erdrückt zu werden: an das Gewicht von Körpern, das ihm gnadenlos die Brust zuschnürte.
Er hielt Izas Hand noch immer fest umklammert, verlor sie aber immer wieder aus den Augen. Sie war so zierlich, dass sie von dem Gedränge regelrecht verschluckt wurde, bis er sie zu seiner Erleichterung endlich wieder entdeckte. Ihr Kopf wurde seitlich gegen die Brust eines Mannes gepresst, und ihr Gesicht war kreidebleich, während sie mit letzter Kraft versuchte, Luft in ihre zusammengequetschte Lunge zu saugen.
»›Ich hol dich raus‹, habe ich ihr zugerufen«, sagte er zu Kasia. »Aber in Wahrheit war ich inzwischen nicht mehr sicher, ob wir nicht beide draufgehen würden.«
Vor Angst hatte sich ihm der Magen zusammengekrampft. Da er alle anderen in der wogenden Menge überragte, stellte er fest, dass sie nur noch wenige Meter von einem breiten Sims in Schulterhöhe hinter ihnen an der Fassade des Postamts trennten. Ein Schrei ertönte, als zwei oder drei Menschen von der Masse zermalmt wurden. Ihre Köpfe versanken im Meer der Demonstranten, das sich sofort wieder über ihnen schloss. Janusz umklammerte Izas Hand noch fester, spannte die Beinmuskeln an und versuchte, ihnen einen Weg durch die Mauer aus Leibern zu dem Sims zu bahnen. Er trat auf etwas Weiches und spürte, wie ein Knochen unter seinem Stiefel brach. Als er sich weiterschob, fiel ein Mädchen mit roter Wollmütze lautlos neben ihm um.
Mit einem letzten Ruck gelang es ihm, Iza zu dem Sims zu zerren. Er stützte sich dagegen, um sich gegen den Druck zu stemmen. Da ihm die Luft zum Sprechen fehlte, sagte er ihr mit einem Blick, dass er sie dort hinaufheben würde, sie aber dazu kurz loslassen müsse. Keuchend hievte
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