Sündenflut: Ein Merrily-Watkins-Mystery (German Edition)
kette mich an einen der Steine, damit sie nicht weggeschafft werden, oder trete in den Hungerstreik – das bringt immer was, solange man kein Terrorist ist.»
«Es ist eine wichtige Sache», sagte Merrily, «aber ein Menschenleben ist sie nicht wert.»
Sie fragte sich, wo sie das schon einmal gehört hatte.
Von Blore.
In dem Radiointerview, bevor er Jane fertiggemacht hatte. Merrily sah ihn an der Theke stehen, das dichte Haar hinten zusammengenommen; wahrscheinlich wollte er verhindern, dass es in sein Bierglas hing. Er schien eine Menge Bier zu trinken und auffällig oft laut zu lachen.
Ganz anders als die Stookes, die sich mit niemandem unterhielten, nicht einmal miteinander. Das Leben musste für die Stookes anstrengend und perspektivlos wirken. Was tat man, wenn man sich auf das größtmögliche Ziel eingeschossen hatte und erst erfahren würde, ob man gewonnen hatte, wenn man starb … und auch dann nur, wenn man verloren hatte.
Merrily lächelte. Dumm – sie beurteilte das Leben der Stookes aus ihrer eigenen Perspektive. Besser, sie ginge nach dem Konzert zu ihnen, um ein bisschen mit ihnen zu reden.
Lol sagte: «Ich werde ein bisschen summen, aber Sie stellen sich vor, es wäre ein Cello, okay? Also, wenn Sie das Cellokonzert von Elgar kennen … die Melodie geht so …»
Merrily war stolz auf ihn. Er hatte sich total unter Kontrolle, als gäbe der Auftritt einem versteckten, extrovertierten Charakterzug plötzlich Gelegenheit zur Entfaltung.
«Wenn Sie alle mitsummmen, können wir vielleicht überspielen, dass uns hier ein Cello fehlt. Versuchen Sie es.»
Sie ließen sich nicht zweimal bitten. Merrily dachte an ihre Sonntagsauftritte bei den Predigten, bei denen sie niemals dieses Maß an Aufmerksamkeit erzielte. Vielleicht sollte sie ein Instrument spielen lernen.
Barry hatte ihr einen Platz an der Tür gegeben. Sie trank eine Schorle, die zusammen mit den extrastarken Pfefferminzbonbons nicht besonders gut schmeckte. Mit extrastarken Pfefferminzbonbons schmeckte überhaupt nichts gut, außer dem nächsten Pfefferminzbonbon.
Sie kannte den Song und seinen Ursprung. Es ging darum, dass Edward Elgar, der Komponist, anscheinend seinen lebenslangen Glauben an den Katholizismus verloren hatte, als er spürte, dass er bald sterben würde. Doch nach Lols Interpretation hatte Elgar einfach nur der komplizierten spirituellen Bürokratie eines katholischen Todes und eines katholischen Lebens nach dem Tod entkommen wollen und sich gewünscht, sein Geist würde von der Landschaft – von der Landschaft um Ledwardine – aufgesogen, die ihm seine Musik und ganz besonders diese Melodie eingegeben hatte.
Nach ein paar Minuten ließ Lol das Publikum alleine summen und begann eine Gitarrenmelodie darüberzulegen, um schließlich Elgars Melodie mit seinem Gesang aufzunehmen.
Rette mich vor dem
Engel der Qualen. Ich will
weder Pracht
noch Herrlichkeit,
ich versuche mein Glück.
Lols Stimme sank bei dem Wort
Qualen
tief hinab. Dann stieg sie bei Elgars aufkeimender Hochstimmung wieder auf. Lol hob die Hand, um das Summen zu beenden. Merrily sah Eirion am Mischpult herumhantieren und dann, als auf dem Bildschirm Wasserblasen zu sehen waren, schwang sich Lols Stimme klar empor, gefolgt von einem schwachen Echo, als würde sie von den fernen Hügeln zurückgeworfen.
Am Zusammenfluss von
Severn und Teme
fließe ich stromab
und spüre die Befreiung
und singe den Bäumen
ihr eigenes Lied …
Lol und das Licht verschwammen. Merrily wischte sich heimlich über die Augen.
«Ich glaube nicht, dass Elgar etwas dagegen hätte, dass ich seine Melodie verwende», sagte Lol kurz darauf in den Applaus hinein.
«Das war großartig, aber ich habe nicht genau verstanden, worum es ging», sagte der Kahlkopf mit dem Rubinohrring. «Ich kenne mich mit Elgar nicht so aus. Was ist dieser Engel der …?»
«Qualen.»
Lol, der dieses Zwischenspiel mit seinem Publikum sichtlich genoss, erklärte, wie Elgar versucht hatte, durch sein Chorwerk
Der Traum des Gerontius
einen Blick auf das Angesicht Gottes zu erhaschen.
«Der Engel der Qualen ist ein schwermütiges Zwitterwesen aus Sündenfresser und himmlischem Fürsprecher, der um die Aufnahme der Seele ins Paradies bittet. Doch als der Tod nahte, hatte Elgars Katholizismus seinen Griff gelockert, und als er auf dem Sterbebett lag, erklärte er einem Freund Folgendes zu der Melodie, die Sie eben gesummt haben … Elgar sagte:
Wenn du je in den Malverns unterwegs bist und
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