Sündenheilerin 03 - Die Reise der Sündenheilerin: Historischer Roman (Sündenheilerin-Reihe) (German Edition)
hakte er nach. »Hast du damit Schwierigkeiten?«
Bertram presste die Lippen aufeinander. »Ich sehe alles, was mir nahe ist, ganz scharf. Aber auf zehn Schritte kann ich die Gesichter der Menschen nicht mehr unterscheiden. Dann muss ich mich auf ihre Kleidung oder Bewegungen verlassen.«
»Aber dein Bruder sagte, du seist ein guter Bogenschütze.«
»Das bin ich. Wenn es auf die Zielscheibe mit den gelben und schwarzen Ringen geht. Die erkenne ich scharf genug. Aber ich träfe niemals einen Vogel im Flug.«
»Wusste Ritter Hermann, dass du kurzsichtig bist?«
Bertram schüttelte den Kopf. »Nicht einmal Johann weiß es. Nur mein Vater. Und der meint, ich solle mich nicht so anstellen, den Blick könne man schärfen, wenn man fleißig übe.«
Mittlerweile waren Witold und Rupert mit den Ringen zurückgekehrt und hatten die Gestelle aufgebaut.
»Versuch es!«, befahl Philip. Bertram nickte und stieg in den Sattel.
Wieder hielt er die Lanze richtig, doch nun, da Philip um die Schwäche seines Knappen wusste, achtete er genau auf dessen Lanzenführung. Bertram traf nur einen der sechs Ringe.
»Das ist mehr, als mir gewöhnlich gelingt«, sagte er leise. »Ich sehe die Öffnungen nur sehr ungenau und muss mich auf mein Gefühl verlassen.«
Philip nickte. Dann wandte er sich den beiden Waffenknechten zu. »Wenn ihr mögt, könnt ihr auch ein wenig üben. Ich muss mit Bertram etwas Dringendes erledigen.«
Die Waffenknechte sahen Philip verblüfft an, wirkten zugleich aber erfreut, dass er ihnen die Reitbahn überließ. Bertram hingegen erinnerte Philip an einen geprügelten Hund.
»Wohin gehen wir, Herr Philip?«
»Eine Lösung für deine Schwierigkeiten suchen. Und dabei können wir uns gleich über deine zweite Kümmernis unterhalten.«
»Meine zweite Kümmernis?« Bertram schluckte. »Hat Frau Helena Euch erzählt, was …«
»Sie hat es mir erzählt und mich dazu verdonnert, mit dir zu reden. Frau Helena hofft, dass du dich einem Mann gegenüber eher äußerst. Sie versteht nämlich, dass du lieber mit einem Mann darüber sprichst.«
»Sie hat Euch verdonnert?«
»Mit allem Nachdruck. Und glaub mir, man sieht es ihr zwar nicht an, aber sie kann sehr gebieterisch werden.«
»Ich weiß.« Wider Willen huschte ein Lächeln über Bertrams Züge.
»Also, was ist bei Ritter Hermann geschehen?«
»Wie viel hat Frau Helena Euch erzählt?«
»Alles, was du ihr berichtet hast. Von seiner Kebse, ihrem Tod und von den seltsamen Geräuschen, die aus ihrer Totenkammer drangen. Was hast du gehört?«
»Sagt mir bitte erst, wohin wir gehen!«
»Wir besuchen einen alten Mann. Abu al-Uyûn, den Vater der Augen.«
Bertram hob die Brauen. »Den Vater der Augen? Was heißt das?«
»Er beherrscht eine seltene Kunst, die hoch geschätzt wird. Im Alter schwindet die Schärfe des menschlichen Auges. Mein Großvater benutzt seit Jahren Abu al-Uyûns Lesesteine. Sie ermöglichen es ihm, kleine Schriften zu entziffern. Vielleicht kann Abu al-Uyûn auch die Schwäche deiner Augen ausgleichen.«
»Ein Lesestein wird mir kaum helfen. Wie soll ich ihn halten und mit der anderen Hand die Lanze führen? Oder meint Ihr, ich gewinne dann sämtliche Turniere, weil meine Gegner vor lauter Lachen aus dem Sattel stürzen?«
»Was ist deine Schwierigkeit im Tjost? Den Ball hast du getroffen. Ein menschlicher Gegner ist noch weniger zu verfehlen.«
»Aber er bewegt sich, und ich erkenne seine Lanze nur mit Mühe.«
Philip nickte. Zwar war die Sehfähigkeit unter dem Helm auch für einen Mann mit gesunden Augen eingeschränkt, aber für einen Kurzsichtigen war es nahezu unmöglich, der gegnerischen Lanze zu entkommen.
Die Sehfähigkeit … Philip erinnerte sich an das Gefühl des Helmes auf dem eigenen Kopf. Das Rasseln des Atems unter dem Metall des Helmes. Und dann kam ihm ein Gedanke. Wenn Abu al-Uyûn tatsächlich in der Lage wäre, die Unschärfe von Bertrams Augen auszugleichen, dann sollte es doch auch möglich sein, entsprechend geschliffene Gläser in die Schlitze eines Helmvisiers einzuarbeiten. Die arabischen Kunsthandwerker waren geschickt.
Das Haus des Vaters der Augen lag nur wenige Straßen von Philips Heim entfernt. Die Tür des Ladens stand weit offen, und aus dem Innern hörte man das Gelächter mehrerer Männer.
Es war der Hausherr mit zwei Gästen, die an einem kleinen Tisch saßen, Tee tranken und Neuigkeiten austauschten. Philip kannte Abu al-Uyûns Gäste. Der eine war Bassam, der Goldschmied, der oft
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