Sündenkreis: Thriller (German Edition)
die Zehen herauslugten.
Über der Hausfrau, die im linken Teil des Bildes mit einem Gänsebraten den Raum betrat, saß fast unsichtbar ein Käuzchen in einer dunklen Nische. Ein Kauz galt als Symbol für törichte Sünder. Auch ein zweites Symbol verwendete Bosch gern – den Hut, der von einem Pfeil durchbohrt wurde. Er kennzeichnete die Feinde Gottes. Auf dem Bildteil, den der Mann gerade betrachtete, hing er an der Rückwand des Zimmers. Es gab noch weitere Zeichen der Völlerei und Unmäßigkeit: Trinkkrüge, ein an der Wand hängendes Messer, abgefressene Knochenreste auf dem Tisch, ein Fleischspieß mit einer Wurst neben einem lodernden Feuer auf dem Boden. Der umgeworfene Hocker in der rechten Bildecke und die über die Stuhllehne gezogene Socke ergänzten die Botschaft.
Der Mann schüttelte den Kopf, rollte das Bild ein und legte es beiseite, um es später wieder mit nach oben zu nehmen. Sein Delinquent passte dieses Mal perfekt, vielleicht weil er ihn schon vor allen anderen ausgesucht hatte.
Sein Blick glitt über das aufgedunsene Gesicht des Fettsackes. Das Doppelkinn und die Wülste unter den Augen ekelten ihn an. Die von der Kälte bleiche Haut ließ die rotblauen Äderchen an der Knollennase noch deutlicher hervortreten. Die schwarzen Buchstaben auf der Stirn schienen sich tief in den bläulich weißen Untergrund eingebrannt zu haben. Der Hals war kurz, eine Speckfalte im Nacken verhinderte, dass sich der Kopf nach hinten neigen ließ, die Oberarme waren nicht muskulös, sondern schwabbelig. Der Bauch hatte im Stehen wie eine mächtige Halbkugel hervorgestanden. Im Liegen hatte sich das Gewebe zu den Seiten verlagert. Der gesamte Rumpf war bis zum Halsansatz behaart. In seinem heutigem Zustand konnte man es nicht mehr sehen, aber auch der Rücken des Dicken war vor der Rasur über und über mit Haaren bedeckt gewesen. Wärmen konnte ihn sein Restpelz nun nicht mehr. Und auch die Schwere des Frauenkörpers, der ein paar Tage lang in der riesigen Kühltruhe auf ihm gelegen hatte, hatte dem Fetten keinerlei Regung mehr entlockt. Der Mann grinste kurz ob dieser absurden Vorstellung.
Wie ein widerlicher, aufgedunsener Gorilla lag der Dicke da und stierte mit glasigen Augen nach oben. Durch die Kälte hatte sich die Iris eingetrübt, und jetzt sah es so aus, als wäre sie mit einer milchigen Schicht überzogen.
Gula – die Maßlosigkeit in all ihren Formen, war in diesem Mann vereint. Er hatte viel zu viel gegessen, Unmengen Alkohol getrunken, geraucht wie ein Schlot und das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Entscheidend war, dass all das aus freiem Willen, also vorsätzlich, geschehen war. Der Fettsack hatte die Wahl gehabt und sich bewusst für das Gegenteil entschieden.
Der Mann klappte den Deckel der Kühltruhe zu und rieb sich über die Oberarme. Es war kalt hier unten. Er hatte dem Fetten – Jochen Most war sein Name gewesen – viel Zeit zur Buße gegeben. Fast zwei Wochen. Dreizehn Tage, um genau zu sein. Dreizehn Tage bei Wasser und nichts dazu. Keine Zigaretten, kein Alkohol, nichts zu essen. Er hatte ihn nicht gewogen, aber Most musste mindestens zehn Kilo abgenommen haben. Es war nicht viel davon zu sehen gewesen, der Typ war danach noch immer stark übergewichtig, aber das war egal.
Jede Nacht hatte er ihn gefragt, ob er seine Sünden erkenne und zur Buße bereit sei, und jedes Mal hatte der Gefangene ihn mit erbitterter Verachtung gestraft. Weder der Hunger noch die Kälte hatten ihn dazu gebracht, seine Verfehlungen einzugestehen, geschweige denn, sie wahrhaft zu bereuen. Jochen Most hatte außer Beschimpfungen und unflätigen Ausdrücken nichts von sich gegeben. Vielleicht hatte er gehofft, sein Verschwinden würde jemandem auffallen, jemand würde nach ihm suchen und ihn hier aufspüren. Ganz davon abgesehen, dass das schier unmöglich war, wer hätte dies tun sollen?
Nachdem er auf Jochen Most aufmerksam geworden war – der Typ hatte einige Computerdienstleistungen für ihn erledigt –, hatte er sein potenzielles Opfer über einen längeren Zeitraum beobachtet. Fettsack arbeitete nicht. Jedenfalls war er nirgends angestellt. Er saß wie eine aufgeblähte Vogelspinne zu Hause an seinem Rechner und tätigte undurchsichtige Internetgeschäfte. Jochen Most mochte Verwandte haben – besucht hatte ihn nie jemand. Freunde besaß er anscheinend auch nicht; er ging selten aus und ließ sich fast alles, was er zum Leben brauchte, ins Haus liefern. Das waren vor allem Unmengen von Fast
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