Sündenkreis: Thriller (German Edition)
später als geplant heimkomme.« Helene schlang sich die Arme um den Bauch. Sobald man stehen blieb, fror man.
»Wenn wir dreiviertel losfahren, schaffst du es bis um sieben.« Paul richtete die Taschenlampe auf das Gebäude vor ihnen. »Wir könnten schnell noch einmal in die Kirche schauen.«
Sie waren seit dem Sommer unzählige Male in diesem verfallenden Ort gewesen, aber die Kirche faszinierte sie am meisten. Unregelmäßige Natursteine ragten wie verschieden große Kugelfische zwischen dem Mörtel nach außen. Tief ins Mauerwerk eingelassen, schauten die schmalen Fenster den Betrachter mit gerundeten Augenbrauen an. Die bunten Scheiben waren längst fortgebracht worden, genau wie die Holzbänke, der dreiflügelige Altar und die geschnitzte Kanzel. Alles war verschwunden, sogar die betagten Linden hatte man schon gefällt, damit die Bagger leichteres Spiel hatten.
Paul lehnte sein Rad an einen löchrigen Lattenzaun, und die beiden anderen taten es ihm nach. Sie wussten nicht, was sie sich von diesem letzten Besuch erwarteten, hatten sie doch die kleine Dorfkirche wieder und wieder besucht und inspiziert. Und doch wurden sie alle drei das Gefühl nicht los, dass heute noch ein Schatz auf sie wartete, etwas Unerhörtes; etwas, von dem sie den anderen mit stolzgeschwellter Brust würden berichten können. Und so beschlossen die drei Kinder, ihren letzten Besuch bis zur letzten Sekunde auszunutzen und dem heiligen Haus noch einmal ihre Aufwartung zu machen.
Das Gebäude glich in der Dunkelheit einem buckligen Wal. Sebastian schaltete seine Taschenlampe an und leuchtete auf das Portal. Der Eingang war mit Brettern vernagelt, aber sie wussten, dass es an der Seite noch eine zweite, kleinere Pforte gab, die nicht so gut gesichert war. Schweigend marschierten die drei Kinder um die Kirche herum. Der gefrorene Boden knirschte unter ihren Tritten. Ihr Atem kristallisierte sich vor den Mündern zu weißen Dampfwolken, die sie schnellen Schrittes durchquerten. Vor dem Seitenportal angekommen, blieben sie stehen, als hielte eine unsichtbare Kraft sie zurück. Dann löste Paul sich aus der Erstarrung und klappte den Schraubenzieher aus dem Schweizer Taschenmesser aus. Sebastian leuchtete ihm. Die Tür schien lockerer als die vorhergehenden Male befestigt worden zu sein, denn schon nach wenigen Sekunden fiel sie ihnen förmlich entgegen, und Paul hatte Mühe, das schwere Holzgefüge, das nun schief in den Angeln hing, zu halten. Gemeinsam drückten die beiden Jungs die Tür beiseite. Ein eisiger Hauch schlug ihnen entgegen und ließ sie frösteln.
»Na los. Worauf wartet ihr? Rein mit euch.« Helene berührte Pauls Rücken und drückte ihn leicht vorwärts. Sebastian, der vor ihm ging, hatte seine Stablampe wieder eingeschaltet und hielt sie wie einer der CSI -Männer, wenn diese ein Haus stürmten. Sebastian fand CSI »cool«, auch wenn seine Eltern dagegen waren, dass er so etwas ansah.
Helene folgte den beiden Jungs zögernd. Sie zweifelte daran, dass sie gerade heute etwas entdecken würden, hatten sie doch die Kirche schon gründlich und vor allem bei Tageslicht inspiziert, aber sie wollte den Jungs den Spaß nicht verderben. Eisfinger krochen über ihren Rücken, und sie schüttelte sich kurz. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause kamen und heißen Tee tranken.
Links vor ihr raschelten die Jungs in der Finsternis herum. Die Strahlen ihrer Taschenlampen strichen über die Wände und hoben die Unebenheiten im Mauerwerk deutlicher hervor.
»Was ist das?« Pauls Flüstern ließ Helene erschauern. Ihre Gänsehaut breitete sich über die Arme bis zum Nacken aus.
»Wo?« Auch Sebastian flüsterte.
»Da vorn, Mann.« Der Lichtkegel schwenkte von der Wand weg dorthin, wo einmal der Altar gestanden hatte. »Das war doch letztes Mal noch nicht hier.« Auch Sebastian leuchtete jetzt nach vorn, und als sich die Strahlen ihrer beider Taschenlampen trafen, wurde das Bild plötzlich deutlich, als hätte es jemand herangezoomt.
Helene hörte, wie Paul einen Schrei unterdrückte. Sebastian hatte sich schon umgedreht und hastete in Richtung Portal. An der Schwelle stolperte er, und die Lampe fiel ihm aus der Hand, aber er hielt nicht an, sondern rannte hinaus, als sei er dem Leibhaftigen begegnet. Jetzt hetzte auch Paul an Helene vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Er keuchte.
Wenige Sekunden später verklang das Getrappel, und die Stille kehrte zurück. Helene stand wie eine Eisskulptur noch immer neben der linken Wand, nur wenige
Weitere Kostenlose Bücher