Suendiger Hauch
einfach zu genießen. Sie nahm seinen einen Arm, während Winnie an seinen anderen Arm trat, und ließ sich von ihm zur Tür hinausgeleiten und in die Kutsche helfen. Im Licht des aufgehenden Mondes erreichten sie Carlyle Hall und fuhren eine lange, von Bäumen gesäumte, halbmondförmige Auffahrt zum Haus hinauf.
Carlyle Hall war ein elegantes Herrenhaus, das von einer schier endlosen Landschaft aus offenen Feldern und Wald umgeben und noch schöner war, als sie es sich ausgemalt hatte. Im palladischen Stil aus Portlandstein gebaut, wurden seine hübschen Balustraden und kunstvoll geschmückten Fenster vom Schein Dutzender Bienenwachskerzen erhellt.
Zwei Diener in roter Livree standen an der Eingangstür. Sie waren von derselben Größe und Statur und trugen dieselben silberfarbenen Perücken. Sie betrat das Haus an Luciens Seite und blieb unter der bemalten Decke stehen, um ihre Gastgeber zu begrüßen.
»Wir freuen uns so, dass ihr kommen konntet«, sagte Velvet und beugte sich vor, um Kathryns Wange zu küssen. »Du siehst wunderschön aus.«
Kathryn machte einen tiefen Knicks. »Danke, Euer Gnaden.«
»Nein, nein, keine Formalitäten heute Abend. Wir sind eine Familie und wollen gemeinsam die Festtage begehen«, sagte Velvet lächelnd.
Merkwürdig berührt, fühlte Kathryn plötzlich einen Stich im Herzen. Sie hatte so lange keine Familie mehr gehabt, und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf, wie sehr sie sie vermisst hatte. Sie erinnerte sich an das letzte Weihnachtsfest, das sie eingesperrt in einer Anstalt bei gekochten Kartoffeln, einem vertrockneten Stück Roggenbrot und einer hauchdünnen Scheibe Hammelfleisch - einem speziellen Festtagsgenuss -verbracht hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie auf dem schmutzigen Stroh auf dem Boden ihrer Zelle gesessen und vor Kummer geweint hatte, weil sie ihre Eltern vermisste und sie ihre Familie nie Wiedersehen würde.
»Kathryn ...?«, hörte sie plötzlich Luciens sanfte Stimme. »Ist alles in Ordnung?«
Sie blinzelte gegen die Tränen in ihren Augen an, während sie sah, dass Velvet und Lucien sie besorgt ansahen. »Es tut mir Leid. Ich habe einen Augenblick lang ...« Sie versuchte vergeblich, ein Lächeln zustande zu bringen. »Es war keine schöne Erinnerung.«
Lucien legte einen Arm um ihre Taille, zog sie an sich und drückte einen Kuss auf ihren Kopf. »Du brauchst dich nicht mehr daran zu erinnern. Heute Abend sorgen wir dafür, dass neue Erinnerungen entstehen. Schöne Erinnerungen.«
»Lucien hat Recht«, stimmte Velvet nachdrücklich zu. »Heute Abend legen wir den Grundstein für schöne Erinnerungen an das Weihnachtsfest, die für immer in deinem Gedächtnis bleiben werden.«
Sie sah wunderschön aus, das leuchtende Haar nur leicht gepudert, ihre schlanke, anmutige Gestalt in einem perfekt passenden, bernsteinfarbenen Seidenkleid, dessen goldfarbene Verzierungen wunderbar zu den goldenen Punkten in ihren dunkelbraunen Augen passten.
Verstohlen wischte Kathryn eine Träne von ihrem Gesicht. »Du bist eine wunderbare Freundin, Velvet Sinclair.«
Velvet drückte ihre Hand. »Wir haben Glück, dass wir uns gefunden haben. Und nun geh und begrüße unsere anderen Gäste. Die Kinder wollten unbedingt aufbleiben, damit sie die neue Frau ihres Onkels Lucien kennen lernen können.« Ebenso wie sie sich freute, die Bekanntschaft der Kinder zu machen, dachte Kathryn.
Mit einem kurzen Lächeln wandte sich Velvet wieder ihren Pflichten als Gastgeberin zu und ging zu ihrem Ehemann, um die neu ankommenden Gäste zu begrüßen, während Lucien Kathryn in das Eichenzimmer geleitete, ein dunkler, reich mit Paneelen ausgestatteter Salon im rückwärtigen Teil des Hauses. Unter ihren Füßen schimmerten dicke Perserteppiche auf dem Boden. Der Raum hatte eine geschnitzte Kassettendecke, und die Wände waren mit roten, verzierten Tapeten versehen.
Der Raum strahlte eine fröhliche Wärme aus und war zur Feier des Tages von oben bis unten mit Stechpalmen und Mistelzweigen geschmückt worden. Über dem mit Eiche eingefassten Kamin, in dem das Weihnachtsscheit entzündet werden sollte, hingen immergrüne Zweige.
Als sie den Raum betraten, kam ein kleiner Junge auf sie zugelaufen, nach der neuesten Mode gekleidet, in königsblauen Kniehosen und einem passenden blauen Samtrock. Alexander Jason Sinclair war die Miniaturausgabe seines großen, attraktiven Vaters mit dichtem, dunkelbraunem Haar und strahlend blauen Augen. Er blieb vor ihnen stehen und machte einen
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