Suendiger Hauch
bis sie sich jedoch vollständig zurückgezogen und sich sogar geweigert hatte, mit dem kleinen Jungen zu sprechen, den sie für ihren eigenen Sohn hielt.
Daraufhin war Michael von den anderen Anstaltsinsassen großgezogen worden. Warum er sich zu Kathryn hingezogen gefühlt hatte, wusste sie nicht, obwohl sie sich sehr darüber freute.
»Hast du das gehört?«, fragte Michael und starrte sie an. »Ich glaube, der Wächter kommt.«
Kathryn erschauerte. »Was ... was für ein Tag ist heute?«
»Es ist der schreckliche Freitag«, knurrte Michael. »Sie kommen, um uns ein Bad zu verpassen.«
»O Gott.« Sie hasste den letzten Freitag im Monat, obwohl er die einzige Möglichkeit bot, die Kontrolle über die Zeit zu behalten. Von einem schrecklichen Freitag bis zum nächsten im darauf folgenden Monat. Heute war der letzte Freitag im September. Sie hatte das Datum in die Wand eingeritzt. Die Schlüssel rasselten im Schloss, und die schwere Eichentür schwang auf. Michael war der Einzige, der sich in den Korridoren und zwischen den Zellen frei bewegen durfte, deshalb schoss er wie ein geölter Blitz hinaus, in der Hoffnung, dem Schicksal zu entgehen, das ihr nun drohte.
»Schieb dein’ Hintern hier raus, Mädel«, befahl die fette Aufseherin. »Weißt doch genau, was für’n Tag heut is, oder?«
Wie konnte sie nur das Gefühl von Sauberkeit so genießen und die Prozedur so derart hassen, die sie über sich ergehen lassen musste.
Die Aufseherin wies sie und die anderen an, sich ihrer Kleider zu entledigen, und trieb sie nackt, begleitet von zwei stämmigen Wächtern, den eisigen Korridor entlang in den Raum, wo die Frauen schließlich abgeschrubbt wurden.
»Nimm deine dreckigen Pfoten von mir!«, schrie sie, als einer der Aufseher sie »zufällig« mit seinen riesigen Pranken in die Brust kniff, weil sie ihr Nachthemd nicht schnell genug auszog.
»Hey, schön langsam, ja? Wollt’ dir doch nur helf’n. Halt dein Maul im Zaum, wenn du kein’ Ärger ham willst, klar.«
Sie biss die Zähne zusammen, um sich selbst davor zu bewahren, einen wilden Fluch auszustoßen, der ihr auf der Zunge lag. Stattdessen ging sie gemeinsam mit den anderen Frauen in einer Reihe den Gang entlang bis zu den Wannen, in denen sie sitzen und sich von einer Aufseherin Kopf und Körper schrubben lassen mussten, bis ihre gerötete Haut wund war und höllisch zu brennen begann. Meist fassten sie sie an, als hätten sie einen Klumpen Fleisch vor sich und nicht einen Menschen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, sich nicht darum zu kümmern, brannte doch die Scham tief in ihrem Inneren.
»Nein«, sagte sie und begann den Kopf hin und her zu werfen. »Ich bin ein Mensch. Ich kann mich selbst waschen. Ihr werdet mir das auf keinen Fall mehr antun.«
Kathryn schrie auf, als plötzlich eine Ohrfeige gegen ihre Wange klatschte.
»Du tust, was ich dir sag’, und hältst endlich mal die Klappe, sonst kannste den Boden auf Händ’n und Knien aufwischen, wenn du fertig bist.«
»Nein«, flüsterte Kathryn im Traum, während sie sich auf dem bequemen Lesesessel zu winden begann. »Das könnt ihr nicht... ich lasse das nicht zu ...«
Lucien beobachtete sie eine Weile von der Tür aus. Dann durchquerte er die Bibliothek und setzte sich in einen Sessel neben sie. Ihm war klar, dass sie träumte und dass es sich offenbar um einen Albtraum handelte, der sie quälte.
»Kathryn.« Er berührte ihre Schulter und schüttelte sie sachte. »Wachen Sie auf. Sie haben einen Albtraum.«
»Nein!«, schrie sie in dem Augenblick auf, als er sie berührte. »Nimm deine dreckigen Pfoten von mir!« Mit einem Ruck richtete sie sich auf, doch er griff sanft nach ihren Handgelenken und zog sie fest an seine Brust. »Ist schon gut. Sie haben nur geträumt. Ich bin es, Lucien. Ich werde Ihnen nicht wehtun.«
Schlagartig riss sie die Augen auf und ließ sich, als sie ihn erkannte, langsam gegen ihn sinken. »Lucien ...« Zum ersten Mal nannte sie ihn beim Namen, es hörte sich atemlos und etwas heiser an. Ihr Atem kam stoßweise, und auf ihrer Stirn standen Schweißperlen. Er spürte, dass ihr Körper bebte.
»Wollen Sie mir Ihren Traum erzählen?«
Sie stieß einen Seufzer aus, doch er versuchte nicht, sich aus der Umarmung zu befreien, sondern ließ ihren Kopf an seiner Schulter ruhen, als wäre sie in der Lage, ihr unmittelbar Kraft zu verleihen. Er hoffte, dass dies der Fall war und dass er ihr schon mit einer solch kleinen Geste helfen konnte, ihre
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