Suendiger Hauch
den sie eingeschlagen hatte, doch Winnie war überzeugt, dass selbst ihre Tortur in der Anstalt sie nicht von ihrem ausgeprägten Bedürfnis hatte abbringen können, zu lernen und zu studieren.
Luciens eigene Wünsche waren ebenso ausgeprägt. Er wollte den Titel der Litchfields bewahren, die Produktivität und den Wert seiner Ländereien und Güter erhöhen und seinen Söhnen eine angemessene Zukunft sichern. Er hatte Pläne geschmiedet, wie er seine Ziele erreichen konnte, und egal, welche Probleme sich ihm in den Weg stellen würden, er würde es schaffen.
Die Tatsache, dass Kathryn in keinster Weise dem Bild entsprach, das er sich von seiner zukünftigen Gattin geschaffen hatte, machte es einfacher für ihn, seinen Weg unbeirrt weiter zu verfolgen. Er missbilligte zutiefst ihr Interesse für die Dinge, die er für eine Dame als unpassend empfand. Winnie konnte sich durchaus vorstellen, dass er tief in seinem Inneren noch immer Groll gegen seine Mutter hegte. Charlotte Stanton Montaine war ebenfalls eine brillante junge Frau gewesen, die sich gegen das gesellschaftliche Diktat aufgelehnt hatte.
Ihre Einzigartigkeit hatte das Interesse von Luciens Vater vom ersten Augenblick an geweckt, als sie einander begegnet waren, und er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt, regelrecht verrückt war er nach ihr gewesen. Doch im Gegensatz zu Kathryn Grayson war Charlotte egoistisch und verzogen gewesen. Als Kind hatte sie Schauspielerin werden wollen -ein völlig undenkbares Ansinnen in Anbetracht der Tatsache, dass ihr Vater ein Earl war. Doch Charlotte brauchte die Aufmerksamkeit so dringend wie ein durstiger Mann das Wasser und hätte alles darangesetzt, um sie zu bekommen. Schließlich war sie mit einem italienischen Grafen durchgebrannt und hatte ihren zwölfjährigen Sohn und einen Ehemann verlassen, der völlig in sie vernarrt gewesen war und der sich fortan dem Opium zuwandte und viel zu jung starb.
Winnie war davon überzeugt, dass Lucien jedes Mal, wenn er Kathryn ansah, an die starke Frau erinnert wurde, die seine Mutter gewesen war. Und wahrscheinlich empfand er eine ähnlich starke Anziehungskraft, wie sein Vater sie bei dieser Art von Frau erlebt hatte, erinnerte sich an die schrecklichen Konsequenzen und rebellierte unbewusst dagegen.
Es war bedauerlich, dachte Winnie und dachte an ihre Liebe zu Richard. Obwohl ihr Gatte ein weniger leidenschaftlicher Mann gewesen war als ihr Neffe und obwohl er sie nie mit diesem heißen, glühenden Blick angesehen hatte, der in Luciens Augen stand, wenn er Kathryn Grayson betrachtete, waren sie sehr glücklich gewesen. Winnie vermisste diese Nähe, dieses Gefühl der Verbundenheit, das sie niemals mehr mit einem Mann teilen würde.
Seufzend trat sie von den schweren Samtvorhängen zurück.
Ihre Liebe zu ihrem Ehemann hatte sich auf ihre eigene Art entwickelt. Als junges Mädchen war sie sogar einmal verliebt gewesen.
Wenn sie Lucien ansah, dachte sie an Allison Hartman und fragte sich, ob sich ihrem Neffen wohl jemals die Bedeutung des Wortes »Liebe« eröffnen würde.
Lucien stieg von seinem schwarzen Araberhengst ab und übergab die Zügel einem Stallburschen, der dienstbeflissen neben ihm aufgetaucht war. »Ich nehm ihn, Mylord.«
Lucien tätschelte den schlanken, eleganten Hals des Tieres, das nach seinem nachmittäglichen Ausritt noch vor Schweiß dampfte. »Er hatte einen langen Tag, Timmy Sorgen Sie dafür, dass er ordentlich abgekühlt wird und eine Extraportion Hafer bekommt.«
»Ja, Mylord.«
Das Pferd wieherte leise, als Lucien aus dem Stall trat. Sowohl Pferd als auch Reiter waren dankbar, dass ein arbeitsreicher Tag mit Besuchen bei Pächtern und Kontrollritten über die Felder hinter ihnen lagen. Im Augenblick wurden die letzten Reste der Maisernte eingebracht, die zum Mästen der Gänse und des restlichen Federviehs verwendet wurden. Schweine wurden geschlachtet, um ihr Fleisch auf dem Markt feilzubieten, ihre Borsten, die für die Bürstenherstellung verkauft wurden, erzielten meist einen guten Preis, und ihr Speck würde so manchen hungrigen Magen füllen.
Lucien schlenderte zum Herrenhaus hinüber, voller Vorfreude auf eine kräftige Mahlzeit und einen ruhigen, angenehmen Abend. Vielleicht würde er mit Kathryn eine Partie Schach spielen. Er hatte entdeckt, dass sie das Spiel perfekt beherrschte, und tags zuvor hatte sie tatsächlich gewonnen.
Der Gedanke daran ließ ein Lächeln über seine Züge gleiten. Er hatte nicht geglaubt, dass
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