Suendiger Hauch
Vergangenheit zu bewältigen.
»Da war ein Kind ... ein kleiner, blonder Junge mit dem Namen Michael. Er war mein Freund.«
»Im Traum?«
Sie nickte. Er konnte die Bewegung ihres Kopfes an seiner Brust fühlen. Glänzende, dunkle Haarsträhnen berührten sanft sein Gesicht.
»Michael war da, als die Aufseher kamen. Es war das Ende des Monats, Zeit... Zeit für die Frauen, zu baden. Ich hasse es, schmutzig zu sein, aber noch schlimmer war es, wozu sie uns zwangen.«
Lucien gab keine Antwort. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, und obwohl er von alledem nichts hören wollte, hielt er sie nicht davon ab, es ihm zu erzählen. Irgendein dunkler Teil in ihm musste einfach wissen, was man ihr angetan hatte, durch welche Hölle sie gegangen war.
»Sie rissen uns das Hemd vom Leib vor den Männern. Sie behandelten uns wie Vieh. Und wenn wir begannen, uns mit ihnen zu streiten und uns gegen sie aufzulehnen, schlugen sie uns.« Sie schluckte hart, wie er aus der Bewegung an seiner Brust schloss. »Einige der Frauen haben sich selbst an sie verkauft, sodass man sie besser behandelte«, fuhr sie fort. »Die meisten von ihnen waren nicht klar genug bei Verstand, um zu begreifen, wo sie waren und was mit ihnen geschah.«
Sie hob den Kopf. In ihren Augen lag ein dunkler, gehetzter Ausdruck. »Lucien, ich kann keinesfalls dorthin zurückkehren. Niemals. Ich würde lieber sterben.«
Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, sodass er kaum mehr zu atmen in der Lage war. Er hielt sie noch fester, strich über ihr Haar und wünschte, dass er irgendetwas tun könnte, das ihre Erinnerungen für immer auszulöschen vermochte. Kathryn schlang ihm die Arme um den Hals und legte ihren Kopf wieder an seine Schulter.
»Sie müssen auch nicht zurück dorthin«, sagte er. »Ich verspreche es, Kathryn.«
Statt einer Antwort hörte er lediglich, wie sie zitternd Luft holte. Als ihr die Innigkeit ihrer Umarmung bewusst wurde, löste sie sich langsam, während eine leichte Röte ihre Wangen zu überziehen begann.
»Es tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht mit meiner Vergangenheit belasten.«
»Ich habe es nicht als Last empfunden.«
Seine Augen suchten ihren Blick. Irgendetwas geschah in dieser Sekunde zwischen ihnen. Kathryn erhob sich aus dem Lesesessel und trat einen Schritt zurück. Er wusste, was in ihr vorging, dieses Bewusstsein, dass irgendetwas Lebendiges, Greifbares zwischen ihnen entstanden war. Gefühle hatten nichts mit Bequemlichkeit und Wohlbefinden zu tun, wohl aber mit Verlangen.
Er fluchte lautlos. Es machte keinen Unterschied, dass er sie begehrte. Er hatte Verpflichtungen, Aufgaben, die es zu erfüllen galt. Sein Leben war exakt nach seinen Vorstellungen geplant und seine Zukunft so wenig veränderbar, als sei sie mit wasserfester Tinte unauslöschlich auf Papier niedergeschrieben.
Und es war definitiv kein Platz für Kathryn Grayson darin vorgesehen. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, wollte er es nicht. Sie war keine Frau, die als Gattin für ihn in Frage kam. Was er wollte, war eine süße, fügsame Frau wie Allison Hartman, die so wenig Widerstand wie möglich bot und sich einfach unter Kontrolle halten ließ.
»Es wird spät«, riss ihn Kathryn aus seinen Gedanken, ihre Worte kaum mehr als ein Flüstern. »Ich werde mich in mein Zimmer zurückziehen.«
»Ja ... ich denke, ich werde ebenfalls zu Bett gehen«, erwiderte er, obwohl er sich fragte, ob er Schlaf finden würde.
Vielleicht würde er in der Dunkelheit wach liegen und an das Gefühl von Kathryn Grays harten, kleinen Brustwarzen denken, die sich an seine Brust gepresst hatten, und an ihren sanften Blick, als sie seinen Namen ausgesprochen hatte.
5
Winifred Montaine DeWitt sah aus dem Fenster ihres Schlafzimmers. Unten im Garten spazierte Lucien gemeinsam mit Lady Kathryn Grayson über die Kieselsteinwege. Winnie wusste, dass er sich zu diesem Mädchen hingezogen fühlte, und konnte durchaus nachvollziehen, warum. Sie waren beide intelligent und besaßen einen ausgeprägten Willen. Und sie waren Menschen, die wussten, was sie wollten, und sich nicht davor fürchteten, ihre Ziele zu verfolgen.
Kathryn war entschlossen, ihre medizinischen Studien fortzuführen, auch wenn dieses Bestreben auf größte Missbilligung in der Gesellschaft stieß. Die Ursache für diese Faszination lag in ihrer Kindheit, im Verlust ihrer Mutter und ihrer Schwester, und sie würde sie nicht ignorieren können. Sie hatte bereits einen sehr hohen Preis bezahlt für den Weg,
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