Sueß, naiv und intrigant
Monatelang – nein, fast ein ganzes Jahr lang, nämlich von dem Moment an, seit sie ein Paar waren – hatte sie davon geträumt, dass ihr künstlerisch begabter Freund sie zu seinem geheimen Plätzchen im Wald bitten würde, um sie zu malen. Selbst wenn er vorgehabt hätte, aus Kleiderbügeln und Konservendosen eine Skulptur von ihr zu machen, wäre sie begeistert gewesen. Liebend gern wäre sie seine Muse geworden, die Edie Sedgwick ihres Warhol, die Beatrice ihres Dante.
Aber er hatte sie nie darum gebeten. Bis heute. Bis heute, wo sie doch unmöglich wieder ein Paar werden konnten. Das ging doch nicht, nach allem, was hinter ihnen lag, nach dem Pakt, den sie mit Jenny geschlossen hatte. Sie hatte Easy gesagt, dass es vorbei sei, und sie hatte es auch ernst gemeint. Oder?
»Was müsste ich da machen?«, fragte sie zögernd und pikste die Spitze ihrer schwarzen Adidas-Stollenschuhe in das dichte Grün des Innenhofs.
»Nichts. Einfach nur dasitzen.« Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Einfach du selbst sein.«
Callie kicherte. Sie selbst sein. Na gut. Solange sie nicht in Sweatpants kommen musste. »Bist du sicher, dass du … mich willst?«
Easys Antwort kam ohne ein Zögern. »Ja.« Er ließ sie nicht eine Sekunde aus den Augen.
Callie seufzte. Na ja, sie konnte schließlich nicht ewig böse sein mit Easy. Irgendwann mussten sie ja wieder Freunde werden. Und tja, vielleicht war der Zeitpunkt jetzt gekommen? Er brauchte jemanden, der ihm für das Kunstprojekt Modell saß, und sie konnte ihm aushelfen, genau wie eine gute Freundin es tun würde. Außerdem würden sie auch niemanden hintergehen, er und Jenny hatten ja Schluss gemacht. Es würde eine völlig unverfängliche Angelegenheit werden, absolut platonisch. »In Ordnung«, sagte sie mit unverbindlichem Nicken und unbewegter Stimme. Aber warum hatte sie so feuchte Handflächen?
Easy zog die Luft ein. »Sagenhaft.« Er sah sie durch seine langen dunklen Wimpern an. »Hast du heute Abend viel Kram zu erledigen?«
»Kram?«, fragte Callie amüsiert.
»Na ja.« Er grinste. »Du weißt schon. Latein. Mathe. Zeug eben.«
Callie konnte nicht verhindern, dass sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Klar, Hausaufgaben, Unterricht- all das, weswegen sie hier in Waverly waren – fiel bei Easy unter die Kategorie »Kram« oder »Zeug«. »Wenn du wissen willst, ob ich heute Abend Zeit habe, dann ist die Antwort: Ja, von mir aus.« Natürlich hatte sie bergeweise Hausaufgaben, aber die Vorstellung, sich ein paar Stunden mit Easy zu verdrücken, kam ihr plötzlich sehr verlockend vor. »Ich glaube kaum, dass Ovid was dagegen hat, wenn ich die Verabredung mit ihm heute Abend verschiebe.«
»Sollen wir uns während der Abendessenszeit im Wald treffen?« Easy schob die Ärmel seines Pullovers – wahrscheinlich das teuerste Kleidungsstück, das er besaß – bis zu den Ellbogen hoch, wobei er die feinen Bündchen ausleierte.
»Okay.« Sie machte eine Pause. »Und hinterher in die Snackbar?«, setzte sie leise hinzu. Wenn man das Abendessen wegen einem Auswärtsspiel oder einem späten Training oder aus sonst einem triftigen Grund verpasste, konnte man seine Essensmarke den ganzen Abend über in der Snackbar von Maxwell Hall einlösen. Letztes Jahr hatten sie und Easy sich immer nach dem Training bei den Ställen getroffen und die Zeit miteinander verbracht, bis der Speisesaal längst geschlossen war. Dann waren sie hungrig in die Snackbar eingefallen und hatten sich Pommes und Hummus-Wraps schmecken lassen.
»Ich spendier dir sogar einen Erdbeer-Milchshake«, versprach Easy und zwinkerte ihr zu.
»Abgemacht.« Sie nickte zur Bestätigung. Sie liebte Milchshakes.
»Dann kommst du zu meinem Plätzchen im Wald? Es ist -«
Callie fiel ihm ins Wort. »Ich weiß, wo es ist, Easy.« Es war ganz in der Nähe der Stelle, wo die Jungs mal nach Pilzen gesucht hatten. Sie war eines Abends mit Tinsley dort spazieren gegangen, und kaum hatte Callie die kleine geschützte Lichtung mit den Blumen und den merkwürdigen Felsbrocken entdeckt, da war ihr einfach klar gewesen, dass es sich um Easys Geheimplätzchen handelte. Sie hatte manchmal in seinen Skizzenblöcken geblättert und sich seine seltsamen, aber wunderschönen Zeichnungen von Bäumen und Blättern und Zigarettenstummeln angesehen – er schaffte es, die abartigsten Sachen faszinierend ästhetisch aussehen zu lassen.
Und nun wollte er sie zeichnen. Ein kurzer Schauer überlief Callie und
Weitere Kostenlose Bücher