Süße Fesseln der Liebe
dabei bewenden zu lassen.
»Erzähl mir von deiner Mutter«, verlangte sie, »du sprichst kaum über sie.«
»Es gibt auch kaum etwas zu sagen«, entgegnete er knapp und ohne den Blick von der Gazette zu heben.
Aurelia war trotz allem überzeugt, dass er nicht las. »War sie krank?«
»Man hat es behauptet.« Greville hatte den Blick starr auf das Papier gerichtet.
»Man? Wer? Dein Vater vielleicht?«
Er legte die Zeitung so ungeduldig fort, dass die Seiten laut raschelten. Seine Miene war dunkel und verschlossen, der Blick eiskalt, als er mit klarer Stimme verkündete: »Seit ich zwei Jahre alt war, habe ich meine Mutter fünf-oder sechsmal zu Gesicht bekommen. Mit ihren eigenen Angestellten hat sie einen eigenen Flügel im Haus bewohnt, hatte nicht das geringste Interesse an mir, soweit ich es erkennen konnte, und noch weniger an meinem Vater. Er war niemals zu Hause, und ich kann mich nur schwach an den Moment erinnern, als mir sein Tod vermeldet worden ist, wohl aber an ein sehr langes Siechtum. Ist deine Neugier damit befriedigt, Aurelia?«
Ihr schoss die Röte in die Wangen. »Ich wollte dich nicht ins Verhör nehmen, Greville. Aber wir leben zusammen unter einem Dach, wir sprechen über Kinder, und so war es nur natürlich, dass ich mich nach deiner Kindheit erkundigen wollte. Es tut mir sehr leid, dass sie so einsam und elend gewesen ist. Vielleicht erklärt das …« Abrupt brach sie ab und biss sich auf die Lippe.
»… erklärt was?«, hakte er mit weicher Stimme nach.
»Oh, ich meine deine Unverbindlichkeit« - Aurelia seufzte - »und dass es dir oft an Mitgefühl mangelt. Greville, es ist überaus ungewöhnlich, dass ein menschliches Wesen sämtliche Bindungen einfach restlos abstreifen kann. Natürlich ist mir klar, dass du deine Arbeit nur deshalb so gut erledigen kannst. Denn wenn du noch niemals das Bedürfnis verspürt hast, einem anderen Menschen zu vertrauen, felsenfest an einen anderen Menschen zu glauben und dafür zu sorgen, dass er auch an dich glaubt, dann ist es einfach, in einem gefühlsmäßigen Vakuum zu leben. Aber ich persönlich finde es sehr schwierig.«
Er musterte sie eindringlich. »Willst du etwa behaupten, dass du es zu schwer findest?«, fragte er leise.
In ihrem Blick lag eine Mischung aus Verzweiflung, Enttäuschung und Bestürzung. »Greville, du hast mir nicht zugehört. Ich habe kein Wort darüber verloren, dass ich mich außerstande fühle, diese Maskerade in London mit dir durchzustehen. Ich habe darüber geredet, wer ich bin, darüber, dass ich verstehen möchte, wer du bist. Für mich ist es wichtig zu wissen, wer du bist und warum du so bist, wie du bist.«
Aurelia erhob sich abrupt. »Unsere Unterhaltung ist einfach lächerlich. Ich kann keinen Sinn darin erkennen. Und jetzt muss ich mich zum Dinner umziehen.« Sie rauschte aus dem Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
Aurelia lag in der kupfernen Badewanne vor dem Kamin in ihrem Schlafzimmer, und Hester goss ihr nach Limonen duftendes Wasser über das frisch gewaschene Haar. Sie fühlte sich so benommen und aus der Bahn geworfen, dass noch nicht einmal die Aussicht auf einen musikalischen Empfang mit Paganini als Gastviolinist sie in Begeisterung versetzen konnte. Natürlich würde man sie vermissen, und ihre Abwesenheit bei diesem Ereignis würde zur Folge haben, dass Cornelia am nächsten Vormittag an ihre Tür klopfen würde. Aber irgendeine Ausrede würde ihr schon einfallen.
»Hester, ich werde das Dinner auf einem Tablett im Wohnzimmer einnehmen«, verkündete Aurelia und wrang das Wasser aus den langen Haarsträhnen. »Bitte reichen Sie mir ein Handtuch und gehen Sie dann zu Ihrem Abendessen. Ich komme allein zurecht.«
»Wenn Sie wirklich sicher sind, Ma'am … sicher, dass Sie heute Abend nicht mehr ausgehen wollen?«
»Ich war mir nie sicherer, Hester. Ich leide unter schwachem Kopfschmerz und werde früh zu Bett gehen.«
»Recht so, Ma'am.« Hester reichte ihr das dicke angewärmte Handtuch, das über einem Gitter vor dem Kaminfeuer hing. »Ihr Schlafrock liegt auf der Kommode.« Sie zeigte auf das Fußende des Bettes.
»Danke. Und jetzt lassen Sie mich bitte allein.« Hester verließ das Zimmer. Langsam tropfte das Wasser von Aurelia ab, als sie sich erhob.
Die Tür zu Grevilles Zimmer nebenan wurde geöffnet, und ihr Ehemann stand auf der Schwelle. »Venus erhebt sich aus den Fluten«, bemerkte er und eilte rasch zu ihr. »Wenn du gestattest.« Er nahm ihr das Handtuch ab und
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