Süße Fesseln der Liebe
wirken. Mit einem leichten Druck seines Fingers würde der Stock sich in einen scharfen Säbel verwandeln, der sich schon bei vielen Gelegenheiten als unersetzlich erwiesen hatte. Nicht dass er damit rechnete, die Waffe bei einem kühlen Morgenspaziergang durch die Straßen Londons einsetzen zu müssen. Aber man konnte nie wissen.
»Mama … Mama … warum bringst du mich zu Stevie?« Franny zerrte am Ärmel ihrer Mutter. »Warum bringt Daisy mich nicht hin?«
Aurelia lächelte abwesend, als sie zu ihrer quengelnden Tochter hinunterschaute. »Gleich, Franny. Ich spreche mit Morecombe.«
»Ja. Aber warum?«, wollte das kleine Mädchen wissen, klang allerdings nicht mehr ganz so drängend. Offenbar war es eher eine Frage des Prinzips.
»Prinz Prokovs Weinhändler meldet sich gewöhnlich am dritten Mittwoch im Monat, Morecombe. Sollte ich noch nicht wieder zu Hause sein, wenn er heute vorspricht, würden Sie dafür sorgen, dass die Lieferung für diesen Monat auf das Land verschickt wird?« Aurelia zog sich die Handschuhe an, während sie sprach.
»Der Prinz legt den größten Wert darauf, dass die zwei Kisten alten Champagners ebenfalls zur Lieferung gehören.«
»Oh, aye«, erwiderte Morecombe, »bestimmt für Lady Livias Entbindung, wie ich mir denken könnte.«
»Ja … nun, vielleicht nicht für die Entbindung selbst, aber für das Ergebnis«, korrigierte Aurelia lächelnd, »es sind nur noch drei Wochen.«
»Aye, nun, wir wünschen alles Gute für eine gesunde Entbindung«, verkündete der alte Mann, »unsere Mavis und unsere Ada stricken jetzt schon seit Monaten, wir haben Strümpfchen, Mützchen und ich weiß nicht was überall im Haus.«
Aurelia lachte. »Die Sachen sind sehr willkommen, Morecombe … ja, schon gut, Franny. Wir gehen jetzt.«
»Ich werde zu spät kommen«, verkündete Franny mit zufriedenem Unterton, »Miss Alison wird böse sein.«
»Nein, das wird sie nicht«, widersprach ihre Mutter, »denn du wirst dich nur um ein paar Minuten verspäten. Es ist noch nicht einmal Viertel vor neun.« Aurelia ergriff die Hand ihrer Tochter und verließ eilig das Haus.
»Aber warum bringst du mich zu Stevie und nicht Daisy?«, wiederholte Franny ihre unbeantwortete Frage.
»Ach, ich möchte Tante Nell etwas fragen«, erwiderte Aurelia ausweichend. Obwohl ihr vollkommen klar war, dass sie Fredericks Bitte nachkommen musste, nichts über die außergewöhnliche Situation verlauten zu lassen, suchte sie an diesem Morgen die Gesellschaft ihrer besten Freundin. Sie brauchte die Vertraulichkeit, musste unbedingt ihren Sinn für die alltäglichen Dinge des Lebens wiederfinden und hoffte, dass Nell ihr dabei helfen konnte.
Wie üblich plapperte Franny ununterbrochen, während sie rasch durch die ruhigen Straßen eilten. Es war ein kalter Morgen, der frische Märzwind pfiff um die Ecken, und die beiden schwangen die Arme, um sich warm zu halten. Hin und wieder antwortete Aurelia auf die Bemerkungen ihrer Tochter, murmelte dann und wann ein paar ermutigende Worte. Mehr schien Franny auch nicht zu brauchen, um ihren Monolog ununterbrochen fortzusetzen. Schließlich bogen sie in die Mount Street ein und kamen just in dem Moment vor dem Haus der Bonhams an, als Harry aus einer Droschke ausstieg.
»Guten Morgen, Harry«, grüßte Aurelia und ließ den Blick wenig überrascht über die zerzauste und erschöpfte Erscheinung streifen. »Du siehst aus, als wärst du ein oder zwei Tage lang nicht zu Hause gewesen.«
»Stimmt«, seufzte Harry müde, »guten Morgen, Franny.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, als sie gerade die Geschichte vom Goldfisch erzählen wollte, die sie und Stevie in einem Glas im Schulzimmer hielten.
Harry begleitete die beiden ins Haus und kommentierte Frannys Geschichte über den Goldfisch an den richtigen Stellen mit erstauntem Ah und Oh.
»Lauf nach oben, Franny«, forderte Aurelia ihre Tochter auf und unterbrach den Redeschwall. »Stevie und Miss Alison warten sicher schon auf dich.« Sie bückte sich, um ihre Tochter zu küssen und ihr dabei den Mantel aufzuknöpfen. »Wir sehen uns heute Nachmittag.«
Franny rannte davon. »Wenn sie nur mal ein paar Minuten den Mund halten könnte.« Aurelia lächelte kopfschüttelnd.
»Sie ist ein kluges kleines Ding«, bestätigte Harry lachend und wandte sich an den wartenden Butler. »Hector, ist Lady Bonham schon unten?«
»Natürlich bin ich schon unten.« Cornelias helle Stimme erklang auf der Treppe. Mit schnellem Schritt legte
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